Bettina Stangneth: Überforderung

Der Titel ist Programm. Die Hamburger Philosophin Bettina Stangneth erklärt uns Deutschen schlicht, wir seien im Umgang mit Wladimir Putin überfordert. Eigentlich würde der Ukraine-Krieg eine klare Haltung erwarten lassen. Gerade von Deutschland, das im 20. Jahrhundert zwei verheerende Weltkriege vom Zaun gebrochen und den Holocaust zu verantworten hat. Aber, sagt, Bettina Stangneth, wir eiern rum, eine klare Haltung ist nicht erkennbar. Dabei setzen wir uns seit fast 80 Jahren kontinuierlich mit dieser Geschichte auseinander.

 

„Wozu die ganze Beschäftigung mit der eigenen Vergangenheit, all die Mahn- und Denkmale zur Erinnerung an Krieg, Verbrechen und Vernichtungswellen, den Kampf für Freiheit und Demokratie, die Preise für Zivilcourage, wenn nicht um für die Gegenwart zu stärken und die Zukunft vor derartigen Menschheitsverbrechen zu schützen?“ (S. 15)

 

Keine klare Haltung als Russland die Krim und den Donbass annektiert hat, Großprojekte wie Flughäfen, Konzerthäuser und Bahnhöfe werden nicht fertig, die Bildungsreform dreht sich im Kreis, das Internet ist zu langsam, der Ausstieg aus der Atomkraft nur halbherzig, Krankenhäuser stehen kurz vor dem Kollaps. Deutschland, ein Land am Limit. Überforderung, wohin Bettina Stangneth sieht.

 

Nun kann man sich immer noch für den IT-Weltmeister halten, auch wenn das Internet im Kanzleramt hängt, das macht wenig, aber im Krieg sollte man sich dann doch nicht in die Tasche lügen. „Kriegszeiten sind Wahrheitszeiten“ (S. 17), schreibt Stangneth. Der Satz klingt gut, aber stimmt er auch? Schon bei dem griechischen Tragöden Aischylos lesen wir: „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.“

 

Das Bild, das Stangneth von uns Deutschen zeichnet, zeigt ängstliche, gut versicherte Menschen mit Fahrradhelm. Da passt es, dass wir zuerst 5.000 Helme in die Ukraine geschickt haben.

 

Doch woher kommt diese Ängstlichkeit, die Stangneth diagnostiziert? Sie führt sie auf die Kommunikation im Nachkriegsdeutschland zurück. Nach dem Ende der NS-Diktatur mussten und konnten plötzlich alle wieder miteinander reden. Aber wen hatte man da eigentlich vor sich, mit dem man redete? Einen Juden, der gerade noch so dem KZ entkommen war? Einen strammen Nazi mit Blut an den Händen? Einen Widerstandskämpfer, einen Spitzel, wen auch immer. Am besten man redete über das Wetter, die allgemeine Lage oder Fußball, aber jedenfalls nicht von sich. Und am besten stellte man auch keine Fragen. Stangneth nennt das „subjektvermeidende Gesprächsführung“. Sie kann dazu dienen, auf brüchigem Boden eine Gemeinschaft herzustellen, wie in den ersten Jahren der Bundesrepublik.

 

Aber „wenn Menschen wirklich gemeinsam nach Entscheidungen suchen müssen, weil konkrete Probleme in der Welt nur gemeinsam zu lösen sind oder weil sie verabredet haben, keine Sonderwege zu gehen, hilft es niemandem, wenn sich ausgerechnet derjenige durchsetzt, der das Gespräch simuliert, also auch die besseren Kondition hat und sich mit endlosen Reihen klingender Worte wesentlich heraushält.“ (S. 73/74)

 

Man konnte damals, als (deie ehemalige) Verteidigungsministerin Christine Lambrecht ihre 5.000 Helme feierte, tatsächlich den Eindruck bekommen, Deutschland versuche sich wegzuducken und herauszuhalten. Tatsächlich aber sieht die Situation heute doch ganz anders aus.

 

„Deutschland ist ohne den deutschen Anteil an der EU-Hilfe mit rund 7,3 Milliarden Euro der drittgrößte Geber. Die EU als Staatenbund hat bisher Unterstützungen in Höhe von etwa 29,9 Milliarden Euro geleistet. Rechnet man die von den einzelnen EU-Ländern jeweils getragenen Anteile an der EU-Hilfe zu den bilateralen Leistungen der Länder hinzu, ergibt sich allerdings ein anderes Ranking der größten Unterstützer der Ukraine: Nach den USA an der Spitze ist Deutschland der zweitgrößte Unterstützer.“ (Quelle)

 

Für mich sieht das nicht nach einer Überforderung aus, sondern nach einem klaren Bekenntnis zur Ukraine und damit zu Freiheit und Demokratie und gegen Putin. Doch selbst wenn ich die von Bettina Stangneth diagnostizierte Überforderung einmal konstatiere, bleibt die Frage: Wie hätte denn ein angemessenes Verhalten ausgesehen? Darauf antwortet die Autorin leider nicht.

 

Bettina Stangneth: Überforderung. Putin und die Deutschen, Rowohlt, Hamburg 2023.

 

Udo

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