Charles Pepin: Mit der eigenen Vergangenheit leben

 Wir alle leben mit Erinnerungen. Der Geschmack des Apfelkuchens, den die Mutter gebacken hat. Der Geruch einer gemähten Wiese. Musik, zu der wir getanzt haben. Der erste Kuss. Das alles war gestern. Vergangenheit. Aber dieses Gestern gehört nicht allein der Vergangenheit an. Es ist höchst gegenwärtig und bestimmt unser Leben. „In Wirklichkeit vergeht die Vergangenheit nicht“, schreibt der französische Philosoph Charles Pépin in seinem neuen Buch „Mit der eigenen Vergangenheit leben“. Und mit jedem Tag, den wir leben, wächst die Vergangenheit, während die Zukunft immer weniger wird.

 

Bei der Frage, wer wir sind, spielen unsere Vergangenheit und unser Umgang mit ihr also eine entscheidende Rolle. Das gilt vor allen Dingen dann, wenn unsere Vergangenheit nicht nur rosig ist, sondern traumatisch, wenn sie von Gewalt, Verlust und Enttäuschungen beherrscht wird. Darauf spielt der Untertitel von Pépins Buch an: „Eine Philosophie für den Aufbruch“.

 

Pepin unternimmt darin eine Erkundung unseres Gedächtnisses. Wie funktioniert es? Und was bedeutet es für uns? In der antiken Philosophie, etwa bei Platon im „Theaitetos“ oder bei Aristoteles in „De Anima“ wird das Gedächtnis als Tabula Rasa beschrieben, eine leere, unbeschriebene Wachsplatte, in die unsere Erinnerungen und unser Wissen eingeschrieben werden. Die moderne Version dieser Wachsplatte ist die Festplatte des Computers. Ganz ähnlich wie dort Informationen in Sektoren abgelegt werden, spricht Augustinus vom Palast der Erinnerung, durch dessen Räume wir gehen können. Diese Beschreibungen haben alle etwas Statisches. Erinnerungen werden an einem „Ort“ abgelegt und ruhen dort, bis sie wieder aufgerufen werden.

 

Ein ganz anderes Bild der Erinnerung beschreibt Henri Bergson (1848 – 1941) in seinem Buch „Materie und Gedächtnis“ von 1896. Es ist der Ausgangspunkt für Pepin, denn Bergson, so schreibt er, habe gezeigt, dass unser Gedächtnis „nicht statisch, sondern dynamisch ist, dass unsere Erinnerungen lebendig sind, einem Auf und Ab unterliegen und kurz unser Bewusstsein streifen, bevor sie wieder verschwinden. Und vor allem: dass unser Gedächtnis konstitutiv für unser Bewusstsein und unsere Identität ist.“ (S. 16)

 

Von Bergson ausgehend, präsentiert Pepin zunächst Geschichte und Ergebnisse der Hirnforschung, die inzwischen fünf Formen des Gedächtnisses kennt. Das episodische Gedächtnis konstruiert mit seinen Geschichten aus unserem Leben unsere Autobiografie. Das semantische Gedächtnis speichert Worte und Ideen, es ist dafür zuständig, dass wir die Farbe Gelb auch benennen können oder eine Zitrone als Zitrone erkennen. Das prozedurale Gedächtnis enthält unsere Gewohnheiten, etwa die Fähigkeit zu schwimmen oder Rad zu fahren.Dann gibt es zwei Formen des Kurzzeitgedächtnisses: das Arbeitsgedächtnis und das sensorische Gedächtnis.

 

Wir können, das ist Pepins zentraler Gedanke, unserer Vergangenheit nicht entgehen. Sie bestimmt, wer wir sind, unser Leben, unsere Identität beruhen auf ihr. Um das zu erläutern, unternimmt Pepin Tiefenerkunden in allen möglichen Feldern der Kultur. Die reichen von Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ über Joan Didion „Das Jahr des magischen Denkens“ bis zu Didier Eribons „Reise nach Reims“ und Songs von David Bowie. Das Schöne an Eribons Philosophie dabei ist, dass ihm nichts zu gering ist für die Philosophie. Er denkt über aktuelle Ergebnisse der Hirnforschung, die er immer wieder einflicht, ebenso nach wie über ein Traumtor von Zlatan Ibrahimović, das er als Beispiel für Bergsons schöpferische Rekapitulation nimmt.

 

Erinnerung ist also nicht ein Spleen alter Menschen, die mangels Zukunft auf die Vergangenheit angewiesen sind. Es ist gut und wichtig, Erinnerungen zu pflegen. Man sollte also so leben, dass man auch Erinnerungen hat. Gespräche mit Freunden, Reisen, Musik, all das schafft Erinnerungen. An das letzte Meeting im Job werden wir uns nur in den seltensten Fällen erinnern.

 

Zugleich gehört zum Erinnern das Vergessen. Dinge nicht mehr zu erinnern ist kein Fehler des Gehirns, es ist essentiell, eine Art Hygiene. Wie es aussähe, wenn wir uns an jedes Detail im Leben erinnern könnten, führt Pepin mit Jorge Luis Borges´ Geschichte „Das unerbittliche Gedächtnis“ vor. Dessen Hauptfigur Ireneo Funes kann nach einem Unfall nichts mehr vergessen. Jedes Detail hat er im Gedächtnis, die Form der Wolken an jedem Tag, den Geruch dieser Sekunde, das Gefühl des Windes auf der Haut. Funes lebt in einem dunklen Raum, um sich vor der Flut der Eindrücke zu schützen. Es ist ein Horror. Vergessen dagegen kann ein Segen sein – gerade dann, wenn Ereignisse traumatisch waren. Auch damit befasst sich Pepin. Wie gehen wir mit ihnen um? Das Kapitel „In die Vergangenheit eingreifen“ behandelt diese Fragen.

 

Pepin kann hochkomplexe Gedanken leicht und gut lesbar darstellen. Sein Buch ist mit Sicherheit kein Text, der sich nur an Fachleute richtet. Im Gegenteil! „Mit der eigenen Vergangenheit leben“ ist ein höchst lesenswertes Plädoyer für das Leben. Einen kontinuierlich wachsenden Anteil an diesem Leben haben unsere Vergangenheit und unsere Erinnerungen. Das nicht zu vergessen, sondern bewusst anzunehmen und zu gestalten, verändert auch unser Verhältnis zu Gegenwart und Zukunft. „Viele Menschen altern schlecht, weil sie nicht mit ihrer Vergangenheit leben, sondern in ihr.“ (S. 226) Die Vergangenheit ist da, wir sollten uns ihr zuwenden, aber sie ist nicht die einzige Zeit unseres Lebens. Zum Leben gehören auch Gegenwart und Zukunft. Am Ende bilden diese drei Modi eine einzige Bewegung: „Wir bewegen uns vorwärts.“ (S. 231)

 

Charles Pepin: Mit der eigenen Vergangenheit leben. Eine Philosophie für den Aufbruch, Carl Hanser Verlag München 2024.

 

 Udo

 

 

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