Dave Edmonds: Die Ermordung des Professor Schlick

Während ich Dave Edmonds Buch über die Geschichte des Wiener Kreises gelesen habe, hat sich durch Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine die Welt verändert. Wer den abstrusen Begründungen des russischen Diktators für den Angriff zuhört, zweifelt entweder an dessen Verstand oder Realitätsbezug. Was wir hier erleben, ist eine völlige Abkehr von rationalen Argumenten. Es ist die Rückkehr des Irrationalen in die nationale und internationale Politik, das mit aller Macht die bis dahin bekannten und anerkannten Regeln und Verhältnisse außer Kraft setzt. Das ist keinesfalls neu, man erinnere sich nur an Donald Trump.

 

Man kann Dave Edmonds Buch über „Die Ermordung des Professor Schlick“ lesen als ein lehrreiches historisches Dokument über die Zerstörungskraft des Irrationalen. Der englische Philosoph und Journalist hat eine Geschichte des Wiener Kreises, dieser enorm einflussreichen Wiener Denkschule, geschrieben, die mit ihrem logischen Empirismus vor allem die angelsächsische Philosophie des 20. Jahrhunderts geprägt hat. Der Wiener Kreis will Metaphysik und Pseudowissenschaften mit logischen Argumenten aus der Welt schaffen. Und genau daran scheitert er.

 

Die Ermordung von Moritz Schlick am 22. Juni 1936 durch den jungen Philosophen Johann Nelböck steht als große Metapher für die verheerende Kraft des Irrationalen im Zentrum des Buches. Nelböck studierte bei Schlick, er ist geistig verwirrt und verdächtigt seinen Professor ein Verhältnis mit einer Kommilitonin zu haben, in die Nelböck verliebt ist und die ihn abgewiesen hat. Er stellt Schlick nach und schickt ihm Morddrohungen. Mehrmals war Nelbröck er schon in einer psychiatrischen Klinik, wurde aber immer wieder entlassen. An diesem 22. Juni nun macht er Ernst. Er erschießt Schlick vor der Philosophischen Fakultät der Universität Wien.

 

Nelbröck wird verhaftet und verurteilt. Aber das Urteil gegen ihn fällt mild aus, denn Nelbröck behauptet im Prozess, er habe Schlick wegen seiner heimtückischen jüdischen Philosophie umgebracht. Das Argument zieht 1936 in Österreich gewaltig, denn das Land ist längst von Nazis unterwandert und der Antisemitismus massiv auf dem Vormarsch. Dass Moritz Schlick kein Jude ist, zählt in dem Prozess wenig. Er wird in den Zeitungen als „Judenfreund“ verunglimpft, der eine „jüdische Denkart“ vertrete. Nelbröck wird zu zehn Jahren Haft verurteilt, kommt aber gleich nach dem sogenannten Anschluss Österreichs wieder frei.

 

Mit Moritz Schlick stirbt der Begründer und geistige Mittelpunkt des Wiener Kreises. Sein Tod ist der Anfang vom Ende der Gruppe. Als 1938 die Nazis auch in Österreich an die Macht kommen, verlassen seine Mitglieder nach und nach das Land. Nach dem Krieg ist der Kreis Geschichte.

 

Dave Redmonds zeichnet dieser Geschichte meisterhaft nach. Er porträtiert seine einzelnen Mitglieder, immerhin zählten zum Kreis Denker wie Ludwig Wittgenstein, Kurt Gödel , Willard Van Orman Quine, Rudolf Carnap und Karl Popper. Er fasst ihre wesentlichen Gedanken und Diskussionen zusammen, bei denen es im Kern darum geht, dass alle empirischen Behauptungen einer experimentellen Prüfung standhalten müssen. Und diese Prüfung müssen sinnlich wahrnehmbar und nachprüfbar sein. Diese Postulate stammen von dem Physiker und Philosoph Ernst Mach, in dessen Fußstapfen der Wiener Kreis tritt. Mach hält Metaphysik, Religion, Ethik und Moral schlicht für Unsinn. Philosophie soll eine strenge Wissenschaft werden wie die Physik. Und was nicht in dieses Muster passt, darüber kann die Philosophie eben keine Aussagen machen. Genau mit dieser Einsicht endet Ludwig Wittgensteins, im Wiener Kreis höchst einflussreicher „Tractatus logico-philosophicus“ von 1918: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

 

Das Denken der Mitglieder des Wiener Kreises hat bis heute teilweise ganz praktische Folgen. Otto Neurath etwa entwickelte die Methode der Wiener Bilderstatistik. Mit ihr kann man empirische Sachverhalte sehr einfach und allgemeinverständlich durch Bilder erklären. Die Piktogramme, die wir zum Beispiel auf Flughäfen benutzen, um uns über alle Sprachgrenzen hinweg orientieren zu können, verdanken wir Neuraths Methode.

 

Vor allem aber stand und steht der Wiener Kreis für Rationalität statt Irrationalität, für Sinn statt Unsinn, für Wahrheit statt Märchen und Mythen. Edmonds schließt sein höchst lesenswertes Buch mit dem Gedanken, der Wiener Kreis habe ein Klima geschaffen, in dem ein solches Denken so selbstverständlich geworden sei, dass die ursprünglichen Ideen dahinter fast unsichtbar seien. „In diesem Sinne liegt der Erfolg des Kreises gerade in ihrer offenkundigen Abwesenheit.“

 

Damit irrt sich Edmonds leider, wie wir gerade durch Putins Versuch, Russland in eine vermeintlich glorreiche Vergangenheit zurückzubomben, sehen. Diese „Politik der Ewigkeit“, wie der Geschichtswissenschaftler Timothy Snyder das nennt, ist so faschistisch und irrational wie der Nationalsozialismus, der den Wiener Kreis zerstört hat. Das macht Dave Edmonds Buch aber nur um so lesenswerter. Die Gedanken und Ideen des Wiener Kreises werden heute dringend wieder gebraucht. Denn was soll man Lügen, Propaganda und Geschichtsklitterung anders entgegensetzen als schlicht und einfach die für alle überprüfbare Wahrheit?

 

Dave Edmonds: Die Ermordung des Professor Schlick. Der Wiener Kreis und die dunklen Jahre der Philosophie, C. H. Beck München 2021.

 

 

Udo

 

Kommentare: 1
  • #1

    Heinrich Geuther (Sonntag, 06 März 2022 23:16)

    Eine spannend geschriebene Buchbesprechung - sehr gut strukturiert, inhaltsreich und - besonders wichtig - großartig in Bezug gesetzt zu der Jetztzeit! Was braucht es mehr, um Lust zu bekommen, das besprochene Buch selbst in die Hand zu nehmen? Danke für's Neugierigmachen!