Emil Angehrn: Die Zeit des Anderen

Die Zeit ist eines der großen Themen der Philosophie. Von den Vorsokratikern bis in die Gegenwart hinein haben sich fast alle Denker mit ihr auseinandergesetzt. Dabei sind viele verschiedene Aspekte des Themas beleuchtet worden, aber was der Schweizer Philosoph Emil Angehrn mit seinem neuen Buch macht, fügt dem Thema doch eine ganz neue Farbe hinzu: „Die Zeit des Anderen“ – so der Titel des in der blauen Reihe des Meiner-Verlags erschienene Essays.

 

 

Nicht nur ich habe Zeit. Auch die anderen haben sie. Wie gehen wir mit der Zeit, die nicht die unsere, sondern die der anderen ist, um? Das ist die Kernfrage von Angehrn. Die Frage ist alles andere als banal. Sie treibt derzeit Millionen junger Menschen auf die Straße. Stichworte: Klimawandel, Fridays for Future, Letzte Generation, Klimakleber. Die Frage nach dem Klimawandel und der Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad ist auch die Frage danach, wie wir mit der Zeit zukünftiger Generationen umgehen. Stehlen wir ihnen die Zukunft, wenn wir die 1,5-Grad-Grenze nicht einhalten? Begrenzen wir ihre Lebenszeit auf der Erde, weil wir nicht willens und/oder in der Lage sind, uns einzuschränken?

 

 

Wer Kinder hat, weiß, dass einen die Frage nach der Zukunft des Kindes zutiefst berührt. Es ist nicht die eigene Zeit, um die es dabei geht, sondern die eines anderen Menschen. Und diese Zeit hat großen Einfluss auf mein Leben.

 

 

Überhaupt: Kinder. Sie spielen eine große Rolle für Angehrns Thema. Denn ein Kind zeugen heißt, Zeit konstituieren. Angehrn schreibt: „Leben schenken, Leben weitergeben ist das ursprüngliche Gefäß des Gebens von Zeit, des Ermöglichens von Zukunft.“ (S. 117)

 

 

Wir können also Zeit geben und Zeit stehlen – und beides Mal handelt es sich um die Zeit eines anderen Menschen. Angehrns Buch hat den Untertitel: „Geteilte Erinnerung, gestohlene Zukunft, geschenkte Zeit“. Die Erinnerung konstituiert das Teilen von Zeit als den dritten Modus im Umgang mit der Zeit des Anderen. Wenn wir uns erzählen lassen von früher, sei es durch die Geschichten von Eltern und Großeltern, durch Erinnerungs- oder Geschichtsbücher, dann tauchen wir ein in eine Zeit, an der wir nicht teilgenommen haben. Möglich ist auch, dass wir in irgendeiner Weise verstrickt sind in die Vergangenheit: politisch oder familiär zum Beispiel. Das wird oft ins Bild des langen Schattens der Vergangenheit gebracht. Wie sehr die Vergangenheit der anderen die eigene Gegenwart bestimmen kann, sehen wir momentan z. B. an den (absolut richtigen) deutschen Reaktionen nach dem Angriff der Hamas auf Israel. Die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands hat klare Konsequenzen für die deutsche Haltung zum Existenzrecht Israels als Staatsräson.

 

 

Die eigene Zeit, das ist der Kern von Angehrn luzidem und lesenswerten Essay, überlagert in vielfältiger und teils ambivalenter Art und Weise mit der eigenen Zeit. Es ist eben nicht nur so, dass ich allein Zeit habe. Die anderen haben sie auch. Das zu erkennen und zu sehen und zu berücksichtigen hat Einfluss auf die eigene Zeit und meinen Umgang damit. Wir werden menschlicher, wenn wir die Zeit der anderen nicht aus dem Blick verlieren. „Die Zeitlichkeit des Menschen ernst nehmen heißt zuletzt, die Existenz von der kommenden, aufgehenden Zeit her zu denken, die sich in eins mit der Zeit des Anderen ereignet.“ (S. 124)

 

 

 

Emil Angehrn: Die Zeit des Anderen. Geteilte Erinnerung, gestohlene Zukunft, geschenkte Zeit. Felix Meiner Verlag Hamburg 2023.

 

 

Udo

 

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