Heiner Wilmer: Trägt

 Heiner Wilmer kenne ich seit meiner Studienzeit und die Art, wie er Vokale beim Sprechen norddeutsch dehnt, klingt mir im Ohr, wenn ich „Trägt“ lese. Zum Schmunzeln bringt mich gleich zu Beginn sein Erleben vom ersten Mal richtig Tee zu trinken als Junge, mit Kluntjes und einer Sahnewolke (23). Und zwar deshalb, weil ihm eine kleine Alltäglichkeit zum Urerleben von Heimat wird und er es als Bild für die Erfüllung der Hoffnung auf den Himmel nimmt: Hoffentlich hat Gott Kluntjes. Das Kindheitserlebnis als Verstehensschlüssel der Hoffnung am Ende erschließt ihm aber auch, was Hoffnung für das eigene Menschwerden bedeutet. Der Theologe Wilmer: „Hoffnung hilft, ich selbst zu werden… auch im übertragenen Sinne. Inkarnation als Fleischwerdung bedeutet dann, dass ich meine eigene Haut finden und mich dort einfühlen muss. Zu meiner Identität gehört, dass für mich Tee und Kluntjes Hoffnung ausdrücken.“ (32)

 

Solch schräg-heitere Vernetzungen von Alltagsgeschichten mit Reflexionen über grundlegende Lebenshaltungen und theologische Wahrheiten sind Programm seines Buches

 

Schon im Titel steckt Methode. Kein Wort zu viel, sondern eines, das stimmt, ein Indikativ, der einem Raum lässt. Bestätigend wie mit einem Ausrufezeichen – ja, das ist es – und anstößt, zieht, in Bewegung bringt. Heiner Wilmer nimmt einen mit auf seine fragende Suche nach Antworten auf große Lebensfragen: Was bringt´s bzw. was trägt angesichts von Schmerz und Leid, aber auch Freude und Glück? Die Fragen führen ihn zu christlichen Grundhaltungen, zum Wort, zur Hoffnung, zum Glauben und zur Liebe. Dort herum kreisen seine Gedanken wie in einer Spirale, die nach innen, oben oder in die Ewigkeit führt.

 

Das ist spannend, oft berührend. Z B. wenn er zu einem Ehepaar, alten Studienfreunden aus den Freiburger Studentenjahren, fährt, deren 20-jährige Tochter sich das Leben genommen hat. Völlig unerwartet erhält das Lebensgefüge einen Riss. „Kann der Glaube an Gott und das Vertrauen auf ihn die Lebenssteine meiner Freunde halten? Was soll jetzt tragen?“ Als der Vater inmitten der Familie zuhause am Sarg seiner Tochter fragt: „Heiner, können wir nicht was beten?“, verpufft das freie Gebet und die alte Tradition des Rosenkranzgebets gibt Vertrauen, tut gut, hilft mit seinen Worten und Wiederholungen beim Hoffen auf die Ewigkeit. „Wie ein Mantra. Sich tragen lassen von dem Bekannten, was in dieser völlig unbekannten Situation etwas Greifbares gab. Das Gottvertrauen mochte in diesem Augenblick tief unter dem Schmerz, der Verzweiflung liegen… Doch man findet durch sie hindurch, hat nicht mehr ganz das Gefühl, komplett verloren zu sein.“ (71)

 

Beim Lesen der „Kunst, Hoffnung und Liebe zu glauben“, so der Untertitel, gerät man in einen Lesefluss - und erfährt vieles aus Heiner Wilmers Leben, seinen Lesefrüchten in Theologie und Philosophie, aus der Bibel, den Schätzen christlicher Traditionen, „Abklänge des Glaubens“, wie Heiner Wilmer sie nennt. Sie führen ihn z.B. zu der Einsicht, dass Glaube Geduld mit Gott ist und Übung braucht (77). In sein Umkreisen von Hoffen, Glauben und Lieben bezieht er überzeugende Menschen, Denkerinnen und Denker, Mystikerinnen und Mystiker ein. Und immer wieder aktuelle Lebensthemen, wie sie insbesondere die Corona-Pandemie und der Lockdown 2020 hervorgebracht haben. So ist das ganze Buch ein durchaus komplexes Netzwerk. Palmiras inbrünstiges Singen von weltlichen Liebesliedern im Generalat der Herz-Jesu-Priester in Rom, Palmira war dort Reinigungskraft, vernetzt er z.B. mit der Mystik der Kleinen Therese von Lisieux und mit Johannes vom Kreuz´ „Die dunkle Nacht“ und mit den Liebesliedern des Hohenliedes des Alten Testament und mit den Einsichten des jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig:  Das Hohelied sei deshalb ein „echtes, ´geistliches´ Lied der Liebe Gottes zum Menschen“, weil es „ein ´weltliches´ Liebeslied war“.

 

„Trägt“ schafft Resonanzraum, bringt zum Schwingen. Besonders auch bei den – für mich lebensvollsten und spannendsten - Gedankenvernetzungen zu „Wer trägt“ (99-150), die ich mir ausgearbeitet wünschte als kleine, persönliche Trinitätslehre ohne Personen. Hier geht die Reise mit Heiner Wilmer im TGV nach Paris, für ihn eine Stadt, um „einzutauchen in das göttliche Geheimnis, das auf dreifache Weise verstanden werden will. Und dabei eine Sprache zu finden für den Ursprung der Kunst, Hoffnung und Liebe zu glauben.“ (99)

 

Methodisch ist alles da für den Transfer vom Alltäglichen in die Theologie: Das Erzählen von der Fahrt, wo in der Sitzreihe vor Heiner Wilmer ein Sohn herumspielt, der dem Schaffner vom Vater als „mein Sohn“ vorgestellt wird, und zu dem unbekannten Ort in der Fremde nach Paris gebracht wird. Wilmer - der als Schriftsteller offensichtlich am liebsten erzählt, - führt einen romancierhaft durch Paris zur Niederlassung seiner Ordensgemeinschaft, der Dehonianer, und zum Treffen mit drei alten Studienfreunden aus seinen Pariser Jahren des Philosophiestudiums. Begegnungen auf dem Weg, wie die mit dem NS-Widerstandskämpfer Jean Verrier beim Vorbeigehen an dessen Gedenktafel, was Heiner Wilmer an seinen Großvater Theodor und dessen Erzählen vom (eigenen?) Töten im Ersten Weltkrieg erinnert, bereiten den Übergang vom persönlichen Erleben zur theologischen Reflexion vor. Von Gott, wie er den Menschen beim Namen nennt, sich selbst namentlich vorstellt: Ich bin, und Sohn wird, da ist, sich einlässt, erfahrbar ist. Vom Indikativ des Sohnes, der uns wertschätzend zusagt „Ihr seid das Salz der Erde“, führt ihn sein Weg zu dessen Hingabe am Kreuz und der Typologie in der großen Geschichte von Isaaks Opferung durch Abraham. Und das ganz konkret in Paris auf dem Weg zur Kirche „Maria der Hoffnung“, „Notre Dame d Ésperance“. Dort trifft sich Heiner Wilmers mit besagter alter Studentenclique: „Neben der Kirche fanden wir ein kleines Café, mit wackligen Holzstühlen, dunkelbraunen Tischen und vergilbten Schwarz-Weiß-Bildern an den Wänden. Ein gewöhnliches Bistro für die Menschen dieser Straße… Wir erzählten uns viel, die Zeit verging wie im Flug. Das Gespräch war äußerst herzlich, sehr vertraut, vor allem waren wir wieder bei jenen alten Diskussionen, die ich noch von früher kannte, bei denen wir uns die Köpfe heiß reden konnten. Doch was sich jetzt auftat, das war für mich neu.“ (119)

 

Auf einem der Türme von „Maria der Hoffnung“ steht ein Text aus dem Prophetenbuch Micha, der an Gottes Forderung an Abraham, seinen einzigen Sohn Isaak zu opfern, erinnert. Das ist das Thema, das theatralisch inszeniert wird: Wie kann ein Vater befehlen, den eigenen Sohn zu opfern? Die einzelnen Freunde versetzten sich in unterschiedliche Rollen bzw. Perspektiven und spielen sie durch. Immer ist es eine Innenansicht Gottes, in den sie sich hineinversetzen und aus der sie sich theologisch unterhalten. Und sie dann rasch wieder verwerfen: In Gott, der sich als Gott missverstanden fühlt mit dem Befehl des Sohnesopfers oder in Gott, der als Hyperpädagoge mit diesem Befehl Abrahams Gottesvertrauen prüft und an ihm feilt.

 

„Kann es nicht sein“, sagt die Studienfreundin Ester als missverstandener Gott, „dass du dich in mir gewaltig täuschst? Hast du dich jemals gefragt, ob deine Bilder von mir stimmen? Nein, sie stimmen nicht. Alle deine Bilder, die du dir gemacht hast, sind falsch. Dabei ist das Falsche nicht das Problem. Das eigentliche Problem besteht darin, dass deine Bilder von mir zu Unheil führen, zu Krieg und Weltenbrand. Ich will keine Massaker, keine Morde im Bataclan. Ich will keine Plagen mehr schicken Ich habe es satt. Ich will auch keine Seuchen und keinen Krebs. Deshalb, nur deshalb habe ich dir streng verboten, dir ein Bild von mir zu machen.“

 

Und Studienfreund Jaques als Gott, der Hyperpädagoge: “Am meisten muss ein Mensch aushalten, wenn er etwas hingeben muss. Das wollte ich prüfen. Ich wollte wissen, ob du dich im Letzten ganz auf mich verlässt. Ich wollte wissen, ob dir klar ist, dass du im Grunde genommen alles von mir hast. Ob dir klar ist, dass das Beste im Leben immer nur Geschenk ist. Ob dir klar ist, dass du aus eigenem Vermögen nichts kannst…. Deshalb habe ich dich auf die Probe gestellt… Weißt du, … ich wusste es, dass du es kannst, Abraham. Aber ich wollte dich das ebenso wissen lassen. Mir ging es … um dich ganz allein.“

 

Die dritte der Studienclique, Heloise, tut sich mit der Geschichte schwer, findet beide Erklärungen altklug, „als können wir Menschen das auflösen.“ Sie versetzt sich in Abraham und Sara, was ihr hilft, die Geschichte auszuhalten, „die weitermachen. Und die in Gott etwas erfahren, was hinter allem liegt. Das, was trägt.“ (130)

 

Die Heftigkeit der Beiträge macht alle betroffen, führt zum Themenwechsel. Studienfreund Nr. 4, Heiner, kommt nicht mehr dran. Doch das Thema und die französische Art der Streitkultur, das Bezugnehmen-aufeinander, Zuhören, Stehenlassen-können und gemeinsame Abwägen gehen ihm nicht aus dem Kopf: „das ist mehr Kultur als Streit. Freude am Anderen, und am Miteinander.“ (132) Er bleibt noch im Café sitzen, schaut die Leute an und findet zu einer Position der universalen Liebe im Erinnern des lesenden Gesprächs mit einer alten Bekannten, der Pariser Sozialarbeiterin und Theologin Madeleine Delbrel. Die versetzt sich in dem Großstadtgedicht „Le Café de Lune“ in Gott, als könne sie die Menschen mit seinem Blick erkennen. Madeleine ist überzeugt, dass wenn unsere Augen wach werden für Gottes Blick und sich in unserem Herzen Gottes Herz öffnet, weitet sich unser eigenes Herz, um all die Menschen darin aufzunehmen. Ein Café bleibt dann kein profaner Ort, sondern wird zu „Heiligem Boden“, weil Gott selbst Fleisch wurde, zum „Scharnier aus Fleisch“. (133)

 

Schließlich betrachtet Heiner Wilmer die Kirche „Maria zur Hoffnung“, eine moderne Kirche der 1990ger Jahre, führt einen mit großer Achtsamkeit durch deren Kirchenraum. Er fragt nach der Heiligen Geistkraft, die den Bau einer solchen Kirche, und, im übertragenen Sinne, den Bau von Kirche überhaupt und von anderen „Bauprojekten“ im Leben und in der Gesellschaft leitet und trägt. Für die Antwort schlüpft er jetzt selbst in eine Rolle, nämlich die der Heiligen Geistkraft, von der die Baupläne stammen. Eine Frauenrolle. Sie sagt, sie wolle die Menschen sehen, die hier leben und arbeiten, beten. „Und will selbst mittendrin sein. Ich will mit den Leuten, die hier am Neuen arbeiten, ins Gespräch kommen. Sie sollen auch das sehen können, was ich sehe. Und sie sollen Ihres dazugeben können. Sie müssen es bauen. Sie müssen es beleben und durchbeten.“

 

Ermunternde Gedanken und zum Transfer geeignet, gerade auch, wenn man an den aktuell begonnenen „Synodalen Weg“ denkt!

 

Das Denken an den spirituellen Meister André Prèvoir, den ersten Novizenmeister der Herz-Jesu-Priester ist eine der letzten Spiralwindungen in den Reflexionen zum Heiligen Geist. Dass für Prevoir die Menschen von Geburt an heilig sind, weil sie „von dem, was man Geistkraft nennen kann, beseelt, bekräftigt, ´bewohnt´ sind. Eben als normale Menschen diese Geistkraft in sich tragen – und auch, dass sie zutiefst gut sind“, diese Empathie für die Menschen hat auch Heiner Wilmer. Und vermitteln seine tiefsinnigen Vernetzungen in „Trägt“. Durchweg. Und das bringt´s.

 

Heiner Wilmer: Trägt. Die Kunst, Hoffnung und Liebe zu glauben. Freiburg, Basel, Wien: Herder, 2020

 

Sabine

 

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