Josep Maria Esquirol: Der intime Widerstand

Der katalanische Philosoph Josep Maria Esquirol, geboren 1963, legt mit „Der intime Widerstand“ einen wunderbaren Essay über die Nähe vor. Wir kennen den Begriff in der Philosophie z. B. aus Martin Heideggers Sprachphilosophie: Sprache als Ent-Fernung, Aufhebung der Ferne. Im Sprechen sind wir näher bei den Dingen.

 

Esquirol geht es nicht um solche oder ähnliche abstrakte Konzepte von Nähe. Er versteht Nähe ganz handfest. Die Nähe, von der er spricht, lässt zu, dass man etwas anfasst, berührt, in die Hand oder in den Arm nimmt.

 

Esquirol beginnt seinen Essay mit einer Art Szene an einem Tisch. Wir sitzen gemeinsam und essen einen Teller Suppe. Eine gewöhnliche und alltägliche Mahlzeit, nichts Ausgefallenes, keine Feinkost. Die Suppe, Brot, ein Glas Wein. Jemand hat für uns gekocht. Er oder sie sorgt sich darum, dass es uns gut geht, dass wir satt werden. In dieser einfachen Szene liegt die Nähe, um die es Esquirol geht. Menschen sind beieinander, einander zugewandt im Gespräch oder durch die Zubereitung der Mahlzeit. In der Mahlzeit selbst spüren wir die Nähe zu den Trauben, aus denen der Wein gekeltert wurde, dem Weizen aus dem das Brot ist, der Erde, aus der die Zutaten für die Suppe sind. Wir spüren die Sonne, den Regen und die Mühe des Erntens und Kelterns.

 

Um Esquirols Vorstellung von Nähe zu verstehen, müssen wir diese Szene einfach nur kontrastieren mit dem hastigen Verschlingen der Mahlzeiten in einer Kantine, dem Essen in einem Schnellrestaurant oder dem Kaffee „To Go“ unterwegs in der U-Bahn oder auf der Straße. Auch wenn mir der Burger in der Hand so nah ist wie das Brot am Tisch, ist hier jede Form von Nähe verloren gegangen. Esquirol erzählt von Herman Melvilles „Bartleby“, für den nie jemand gekocht hat, dem nie eine Mahlzeit serviert wurde, er isst allein in seinem Büro. Bartleby kennt diese einfachste Form der alltäglichen Nähe nicht: das gemeinsame Mahl. Am Ende stirbt er, weil er alle Nahrung verweigert.

 

In seinem Essay geht Esquirol verschiedenen Formen von Nähe nach. Er schreibt über Hände, die sich zu einer Schale formen lassen. Die Schale steht für die Gabe, mit der wir uns anderen zuwenden. Es geht um das Zuhause, um die Rückkehr dorthin, um den Himmel, den wir von unserem Fenster aus sehen können, und der uns doch näher sein kann als die Scheckkarte, die wir am Leib tragen. „Das Leben ist eine Parabel der Heimkehr“, schreibt Esquirol. Und es gibt die letzte Heimkehr der Seele in ihr Zuhause. Esquirol zitiert das Gedicht „Auferstehung der Toten“ des tschechischen Dichters Vladimir Holan. Darin beginnt die Auferstehung der Toten nicht mit Posaunen und Trompeten, sondern mit den vertrauten Geräuschen der Mutter, die morgens Kaffee kocht.

 

Diese Formen der Nähe begreift Esquirol als den intimen Widerstand. Diesem Widerstand, der sich gegen Schnelligkeit, Technisierung, Globalisierung, ganz allgemein gegen so etwas wie eine moderne Ortlosigkeit richtet, geht es nicht darum, die Macht der Moderne zu brechen. Es geht nicht um Herrschaft, sondern um eine Lebensform, die Esquirol Resistenz nennt. Der Widerstand ist intim, weil er in unserem Selbst liegt. Esquirol vergleicht ihn mit dem elektrischen Widerstand, der dem Durchlaufen des Stroms widersteht, dabei aber Licht und Wärme erzeugt.

 

Man kann Esquirol vorwerfen, sein intimer Widerstand sei banal. Gemeinsam ein Glas Wein zu trinken und eine Unterhaltung zu führen, sei das Normalste der Welt, aber doch kein Widerstand. Wenn wir diesen Einwand allerdings im Licht der Pandemie betrachten, die wir seit 2020 haben, kann man entgegnen, dass Nähe alles andere als banal ist. Die Pandemie hat uns gelehrt, dass Nähe eine Gefahr ist. Um Corona zu bekämpfen, müssen wir Abstand halten. Plötzlich kann es gefährlich sein, gemeinsam am Tisch zu sitzen oder einander in den Arm zu nehmen. Damit will ich auf keinen Fall irgendwelche Argumente von Impfgegnern anbringen. Ich bin sehr dafür, dass man sich impfen lässt! Aber die Pandemie hat uns doch gezeigt, dass Nähe alles andere als selbstverständlich ist.

 

Wir kommen einander auch nahe, wenn wir kämpfen. Diese Nähe lehrt uns aber auch, wie furchtbar der Kampf ist. Die moderne Kriegsführung, die wir gerade in der Ukraine ansehen müssen, versucht deshalb auch, die Nähe aus dem Töten zu nehmen. Menschen werden aus großer Entfernung mit Raketen und Bomben umgebracht, um für die Soldaten die Folgen ihres Tuns möglichst nicht vor Augen zu führen.

 

Der intime Widerstand, der entsteht, indem wir Nähe zulassen, ist also auch eine Form der Mitmenschlichkeit. Diese einfache Menschlichkeit ist in jeder Zeile von Esquirols Essay zu spüren, auch wenn der schmale Band fast en passant Philosophie und Literatur der letzten zweieinhalb Jahrtausend aufruft. So gelehrt und belesen Esquirol ist, sein Essay hat etwas zutiefst Mediterranes. Man ist erinnert an die Gedichte von Giannis Ritsos über die kleinen Dinge oder an Albert Camus und die Aufzählung seiner Lieblingsworte: „Die Welt, der Schmerz, die Erde, die Mutter, die Menschen, die Wüste, die Ehre, das Elend, der Sommer, das Meer.“

 

„Der intime Widerstand“ von Josep Maria Esquirol feiert das Leben. Es ist ein wirklich sehr schönes Buch, das einem das Gefühl eines Sommertags am Meer vermittelt und das glücklich macht. Dafür muss man dankbar sein.

 

 Josep Maria Esquirol: Der intime Widerstand. Eine Philosophie der Nähe, Meiner Verlag, Hamburg 2021.

 

Udo

 

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