Lorenz Jäger: Heidegger. Ein deutsches Leben

 Lorenz Jäger hat eine maßgebende und sehr lesenswerte Biographie Martin Heideggers geschrieben. Ein Standardwerk. Damit löst er Rüdiger Safranskis 1994 erschienenes „Ein Meister aus Deutschland“ ab, das lange Zeit Maßstäbe setzte. Das hat zunächst einmal einen einfachen Grund. Über ein Vierteljahrhundert nach Safranskis Großtat liegt eine Vielzahl an Dokumenten vor, die Safranskis damals nicht kannte. Inzwischen ist die Heidegger-Gesamtausgabe weitgehend abgeschlossen und zahlreiche Briefwechsel sind herausgekommen. Insofern konnte Jäger aus dem Vollen schöpfen. Das nutzt er weidlich.

 

Denken und Leben gehören bei Heidegger eng zusammen. Wer seinen Denkweg nachzeichnen will, muss auch seinen Lebensweg erzählen. Lorenz verfolgt diesen Ansatz konsequent, wobei er fast immer in kritischer Distanz zu Heidegger bleibt. Das fällt bei einem Thema besonders positiv auf: bei Heideggers Verhältnis zur Politik. Heidegger war Nationalsozialist. Daran lässt Jäger keine Zweifel aufkommen. Er versucht erst gar nicht, das in irgendeiner Weise wegzuinterpretieren oder als Irrtum darzustellen. Vielmehr versteht Jäger Heideggers Einsatz für die Partei und das Freiburger Rektorat als Ausdruck einer maßlosen Selbstüberschätzung der eigenen Person und der Rolle der Philosophie insgesamt. Karl Jaspers hat einmal formuliert, Heidegger habe den Führer führen wollen. Auf eine solche Schnapsidee muss man erst einmal kommen. Aber Jaspers lag damit ganz richtig. Genau das hatte Heidegger vor, und Jäger bestätigt das.

 

Hinter dieser Selbstüberschätzung steckt eine absurde Selbstbezogenheit, deren Ausmaß tatsächlich „erschütternd“ (S. 380) ist. Heidegger geht es um Heidegger. Er ist der Mittelpunkt der Welt. In dieses Bild gehören auch die vielen Geliebten, die Heidegger bis ins hohe Alter hinein hatte. Ein ganzes Kapitel widmet Lorenz diesem Thema: „Szenen einer Ehe“.

 

Im Januar 1945, Deutschland ist fast besiegt und Freiburg liegt seit dem 27. November 1944 in Trümmern, lässt Heidegger seine Frau Elisabeth allein im zerbombten Freiburg zurück und zieht zu seiner Geliebten Margot Prinzessin von Sachsen-Meiningen. Auf ihrem Schloss versucht er, einen Turm als zweites Denkrefugium neben der legendären Hütte von Todtnauberg auszubauen. Aber es fehlt an Baumaterial. Darüber klagt Heidegger bei Elisabeth. Und er ist schwer mitgenommen, weil die „innerste Not der Geschichte und des Abendlandes“ (S. 380) an ihm zerren. Und zwar viel „eigentlicher“ als die Not der letzten Kriegsmonate seine Frau und seine Landsleute betrifft. Dieser Heidegger ist schwer erträglich. Man muss ihn aushalten. Und man muss aushalten, dass er – gewissermaßen trotzdem – einer der ganz großen Denker des 20. Jahrhunderts ist.

 

Hannah Arendt hat anlässlich von Heideggers 80. Geburtstag von dem Sturm geschrieben, der durch Heideggers Denken zog. Dieser Sturm war verantwortlich für den legendären Ruf des frühen Heidegger, noch vor der Veröffentlichung von „Sein und Zeit“ 1927. Es ist ein großer Pluspunkt von Jägers Biographie, dass er die Leser*innen an diesem Sturm teilhaben lässt. Die innere Erregung, die Heideggers Denken bis zu „Sein und Zeit“ angetrieben hat, arbeitet er im ersten Drittel seiner Biographie meisterhaft heraus. Man bekommt Lust, die frühen Freiburger und Marburger Vorlesungen zu studieren.

 

Dann wird es finster. Die Nazis kommen an die Macht. Und Heidegger sind sein Erfolg und das eigene Denken dermaßen zu Kopf gestiegen, dass er glaubt, er könne im neuen Deutschland ein entscheidendes Wort mitreden. Dass er sich dafür später nie auch nur andeutungsweise entschuldigt hat, passt ins Bild. Nicht er hat sich geirrt, die dummen Nazis haben ihn wie alle anderen auch ganz einfach nicht verstanden. Wofür soll er also um Verzeihung bitten?

 

Jäger hat seinem Buch den Untertitel „Ein deutsches Leben“ gegeben. Das trifft es schon sehr genau. Heidegger verkörpert Deutschlands Geschichte des 20. Jahrhunderts. Er ist so eine Art philosophischer Doktor Faustus. Jemand der das Höchste denkt und sich zugleich mit dem Teufel gemein macht. Hannah Arendt hat das alles sehr klar gesehen. In ihrem legendären Interview 1964 mit Günter Gaus sagt sie – und heute liegt es nahe, dass sie damit vor allem Heidegger gemeint hat – das Groteske 1933 sei doch gewesen, dass gerade den Intellektuellen teilweise „phantastisch interessante und komplizierte“ Dinge zu Hitler eingefallen seien. Trotzdem hat sie nie mit Heidegger gebrochen, eben weil da dieser Sturm in seinem Denken war, den sie in den 1920er Jahren hautnah miterlebt hatte. Man muss Heideggers Widersprüche wohl einfach stehen lassen und aushalten.

 

Lorenz Jäger legt viele dieser zutiefst deutschen Brüche in seiner brillant geschriebenen Biographie frei. Er handhabt die enorme Materialfülle, allein die Heidegger Gesamtausgabe hat mehr als 100 Bände, souverän. Dabei versucht er immer, Heidegger zu verstehen, allerdings ohne die kritische Distanz zu verlieren. Wie gesagt: Ein Standardwerk. Wer sich mit Heidegger beschäftigt, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

 

Lorenz Jäger: Heidegger. Ein deutsches Leben, Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2021

 

Udo

 

 

 

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