Leben. Meine Geschichte in der Geschichte ist die Autobiographie von Papst Franziskus. Der Papst – geboren 1936 in Buenos Aires, ältester Sohn einer italienischen Einwanderungsfamilie - erinnert sein Leben entlang der zentralen geschichtlichen Ereignisse, die in seine Lebenszeit fallen. Er beginnt beim 2. Weltkrieg mit dem Holocaust und der Atombombe, führt über den kalten Krieg, die Mondlandung und die Militärdiktatur in Argentinien zum Mauerfall, zur Entstehung der Europäischen Union und zu den Terroranschlägen des 11. September. Von der Weltwirtschaftskrise gelangt er zum Rücktritt von Papst Benedikt und denkt über die Pandemie hinaus nach über die Zukunft der Menschheit angesichts der aktuellen Kriege oder dem Missbrauch in der Kirche.
Dieser Autobiographie liegen Gespräche von Papst Franziskus mit dem Journalisten Fabio Marchese Ragona voraus, der an der Textlegung mitgewirkt hat. „Leben“ ist eine in verschiedener Hinsicht eigenwillige Autobiographie. Sie ist erzählte Geschichte oder, anders gesagt, praktiziertes Tradieren. Es ist, als säße man im Familienkreis irgendwo oder überall auf der Welt und lausche den Geschichten von früher, aus denen viel gelernt werden kann und soll.
Das Eigenwillige ist, dass die „Geschichte in der Geschichte“ zwei Erzähler hat, einen Ich- und einen Er-Erzähler. Beide nehmen einen mit in sehr persönliche Winkel von Papst Franziskus´ bzw. Jorge Bergoglios Leben, wobei der auktoriale Er-Erzähler Vorkommnisse aus der Lebensgeschichte schildert, kommentiert oder sie zeitgeschichtlich einordnet.
Dafür ein Beispiel aus vielen. Es ist September 1945 und der 2. Weltkrieg ist zu Ende. Der Er-Erzähler schildert: „Der 2. September bedeutet weltweit das Ende der Feindseligkeiten. Doch die ganze Welt steht noch unter dem Schock des amerikanischen Atombomben Abwurfs auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki. Die enorme Zerstörungskraft der beiden Bomben hatte über zweihunderttausend Tote und einhundertfünfzigtausend Verletzte zur Folge. Auch in Argentinien feiert man das Ende des Krieges und überall ist von den neuen Waffen die Rede: in den Bars, den Zeitungen, dem Radio, der Pfarrgemeinde und der Nachbarschaft. Der inzwischen neunjährige Jorge hört seine Eltern darüber sprechen. Aber auch seine Lehrerin in der Grundschule Nummer 8, Coronel Pedro Antonio Cerviño.“ (S.46)
Der Ich-Erzähler macht weiter: „Von nebenan rief unsere Nachbarin plötzlich mit voller Lautstärke: Señora Regina! Señora Regina!, damit Mama auf die Straße kam. Weil sie dachte, etwas Schlimmes sei passiert, rannte meine Mutter hinaus. Die Nachbarin schrie weiter, diesmal jedoch mit einem strahlenden Lächeln: Señora Regina … der Krieg ist aus! Der Krieg ist aus! Mama blieb für einen Augenblick völlig verwirrt stehen. Dann brachen beide in Tränen der Freude und Erleichterung aus.“ (S.47) Von diesen persönlichen Erinnerungen geht er zu aktuelleren oder allgemeinen Gedanken zu Krieg und Frieden: „Damals sehnten sich die Menschen auf der ganzen Welt das Kriegsende herbei. Die Geschichte wiederholt sich. Und so wie damals ist es auch heute. Wir alle leiden unter den Kriegen und Konflikten in den verschiedensten Regionen der Welt und fragen uns, was wir tun können, um das Leid der Menschen zu lindern. Natürlich können wir durch Werke der Nächstenliebe zum Wiederaufbau beitragen oder dazu, dass Hilfsgüter geliefert werden. Doch unser wichtigster Beitrag kann darin bestehen, unsere Herzen von Hass und Ablehnung den nächsten gegenüber zu befreien. Wir alle sind Schwestern und Brüder. … Wir müssen lernen, in dieser Welt eine Kultur des Friedens zu etablieren. Die sich nicht auf die Ablehnung von Waffengewalt beschränkt. Es geht dabei auch um die Gewalt durch Worte, die zerstören, um die psychische Gewalt gegen schwache und wehrlose Menschen, um Machtmissbrauch auch in der Kirche. Wollen wir wirklich Frieden? Dann müssen wir anfangen, an uns selbst zu arbeiten.“ (S.48/49)
Das Eigenwillige an Franziskus´ Autobiographie ist diese Kombination persönlicher Lebens- und Zeitgeschichte mit den großen Themen dieses Papstes, wie sie in seinen Lehrschreiben, Ansprachen oder Katechesen niedergelegt sind: Armut und Hunger, Gerechtigkeit, Wirtschaft, Bewahrung der Schöpfung, Krieg und Frieden, Missbrauch in der Kirche oder die Zukunft des Papstamtes und Liebe und Gebet.
Wer gerne durch Geschichten lernt und das mit Humor und Leichtigkeit und ohne Scheu vor Wiederholungen oder Sentimentalem, für den ist diese Autobiographie das Richtige. Mir erging es wiederholt wie im familiären Erzählkreis, aus dem ich das „Noch eine, nicht aufhören“ kenne. Nur das es sich bei „Leben“ um die Geschichten eines weltberühmten, einflussreichen, gebildeten, warmherzigen, mit Jesus Christus verbundenen „Großvaters“ handelt, dessen Herz schlägt und der sich in Tat und Wort einsetzt für die Armen, die Gerechtigkeit, die Liebe und die Kirche Jesu Christi – und das macht diese Geschichten in der Geschichte echt faszinierend.
Sabine