Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen

Gott ist ein Thema, das Peter Sloterdijk umtreibt. Das beginnt schon 1983 in der „Kritik der zynischen Vernunft“, in der Sphären-Trilogie spielt Gott eine Rolle; „Du musst dein Leben ändern“ 2009 setzt ein mit dem Satz „Ein Gespenst geht um in der westlichen Welt – das Gespenst der Religion.“ 2017 erschien „Nach Gott“. Das neue Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen“ nun befasst sich mit der Rede von Gott – oder dem Sprechen Gottes selbst. Sloterdijk nennt das Theopoesie.


Theopoesie besagt, dass Gott sich im Wort und in Texten aller Art niedergeschlagen hat: vom griechischen Drama bis zu den heiligen Texten der Weltreligionen: Talmud, Bibel, Koran, den Veden oder dem Daodejing. Sloterdijk unternimmt eine Lesereise zu einigen dieser Texte. Die Fahrt beginnt im antiken Athen auf dem Theater. Dort erscheinen die Götter auf der Bühne, um unlösbare menschliche Konflikte durch ihren Einspruch zu lösen. Und damit der Einspruch der Götter auch die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zieht, erscheinen Athene und Co. mittels eines erheblichen maschinellen Aufwandes. Mal schweben sie vom Himmel, mal tauchen sie unvermittelt aus dem Bühnenboden auf: Deus ex machina. Wo man den Göttern kein Theater baut, müssen sie wie bei Moses ihre Gebote für die Menschen selbst schreiben. Sie offenbaren sich, indem sie Analphabeten wie Mohammed diktieren. Oder sie leben wie Jesus als Mensch unter den Menschen, damit ihre Geschichte erzählt wird.


Neben dieser ersten Textebene der heiligen Schriften erzählt Sloterdijk von einer zweiten Textebene, die sich auf die erste beruft. Das sind Dichtungen wie Dantes „Divina Commedia“ oder Klopstocks „Messias“, Texte aus der Philosophie aller Jahrhunderte und natürlich theologische Texte. Es ist sicher kein Zufall, dass in der Mitte von Sloterdijks Text Reflexionen zum evangelischen Theologen Karl Barth und zum katholischen Theologen Heinrich Denzinger stehen. Barths „Kirchliche Dogmatik“ mit ihren 9.300 Seiten und Denzingers „Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Enchiridion Symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum“ mit seinen mehr als 5.000 Dokumenten müssen den vielschreibenden Sloterdijk schon allein aufgrund der reinen Textmenge begeistern.


Es sind Texte, die auf Texte reagieren, die auf Texte reagiert haben. Das eine Wort gebiert das andere. So entsteht eine enorme Menge an Theopoesie. Solterdijk vergleicht sie einmal mit der großen Wolke von Plastikmüll in den Weltmeeren. Ganz ähnlich gebe es „auf den Weltmeeren des Seelischen gewaltige Wirbel aus Götter-Rückständen“ (S. 107).


Diese theopoetische Wortwolke ist enorm einflussreich. Davon handelt die zweite Hälfte von Sloterdijks Buch: Unter hohen Himmeln. Glaube und Religion dienten immer auch dem Zusammenhalt von Gemeinschaften. Es sind politische Letztbegründungen, starke Gründe, um zusammen zu sein (um Sloterdijk zu zitieren). Der Glaube erklärt, warum Kriege gewonnen und Könige gekrönt werden. Selbst Platon, der theopoetischen Texten skeptisch gegenübersteht, musste in der „Politeia“ auf den Mythos als politische Letztbegründung seines Staatsgebildes zurückgreifen. Vergil schrieb dem römischen Reich vor dem Hintergrund von „Ilias“ und „Odyssee“ mit der „Aeneis“ einen eigen Gründungsmythos. Und noch die Hinwendung der deutschen Romantiker zum Mittelalter entstammt der Suche nach dem Gründungsmythos für einen deutschen Staat.


Die Wirkung der Theopoesie geht aber weiter. Sie erklärt das Böse in der Welt. Und sie setzt allerlei religiöse Exzesse in Gang: Wüstenväter, Eremiten, Asketen, Säulenheilige, aber auch bestialische Hinrichtungen (vermeintlich) Andersgläubiger. Es tun sich hier Abwege und Abgründe auf, die Sloterdijk höchst süffig beschreibt, mit einer Begeisterung für das Absurde, ähnlich wie er sie bei Denzingers Kompendium an den Tag legt, wenn es etwa um die Frage geht, ob ein der Geschlechtsorgane beraubter Laienbruder nach kanonischem Recht noch Priester werden könne.


Diese Süffigkeit und Sloterdijks enorme Belesenheit machen „Den Himmel zum Sprechen bringen“ zu einem Lesevergnügen. Man spürt, der Autor hat Lust an Texten, die Texte hervorbringen, die Texte hervorbringen. Da ist Sloterdijk ganz altmodisch postmodern wie Auster, Bolaño oder Eco. Entsprechend wimmelt sein Text von eingestreuten Zitaten, mal eine halbe Zeile aus Thomas Manns Joseph-Tetralogie, mal ein wenig Heidegger, mal die Bibel. Wer solche Zitate erkennt, wird es lieben. Wenn man sie nicht erkennt, ist es auch kein Fehler, aber das Lesevergnügen ist kleiner.


Das Vergnügen, das man bei der Lektüre hat, liegt auch an der Ironie, mit der Sloterdijk schreibt. Aber, er hat bei aller Distanz zum Thema Glauben und Religion doch auch eine große Sympathie dafür. Das spürt man im letzten Kapitel über Religionsfreiheit. Religion in der bisherigen Form, wie sie vor allen Dingen die katholische Kirche bietet, hat nach dem immer noch nicht ausreichend aufgearbeiteten Missbrauchsskandal und der als „gerechte Diskriminierung“ bezeichneten Weigerung, homosexuelle Paare zu segnen, jedenfalls in Europa ihr eigenes Ende eingeläutet. Die Welt kommt ohne sie aus. Aber, so Sloterdijk, genau darin liegt ihre Chance. Wenn Religion so nutzlos ist wie Musik, dann haben wir eine ganz neue Chance, ihre Schönheit zu entdecken. Welch ein wunderbarer Gedanke!

Peter Sloterdijk: Den Himmel zum Sprechen bringen. Über Theopoesie, Suhrkamp Verlag, Berlin 2020

Udo

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