Richard David Precht: Von der Pflicht

 Ein Buch über die Pflicht zu schreiben, erscheint im Jahr 2021 angestaubt. Pflicht – das ist doch ein Begriff von gestern. Das klingt nach dem Preußen des 19. Jahrhunderts, nach Pickelhaube und Wickelgamaschen. Tatsächlich aber ist Pflicht ein hockaktueller Begriff und das Thema geht uns spätestens seit dem Beginn der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 an. Und zwar existenziell. Es geht dabei um nicht weniger als Leben und Tod.

 

Was bedeutet Pflicht? Der aus dem Alt- und Mittelhochdeutschen kommende Begriff meint so viel wie Sorge, Pflege, Teilnahme an und Dienst für die Gemeinschaft. Nietzsche hat ihn einmal als „das Recht der anderen auf uns“ beschrieben. Es geht, mit John F. Kennedy zu sprechen, darum, was wir für unser Land tun können.

 

Genau diese Frage stellt sich angesichts der Corona Pandemie. Sie erscheint, so Precht, „wie ein Brennglas“ (S. 13). Denn aus der Pandemie kommen wir nur gemeinsam heraus, weil niemand für sich allein immun sein kann. Die Frage, wie wir uns angesichts des Virus verhalten, ist existenziell und keine reine Privatangelegenheit. Es geht nicht allein darum, dass ich mich selbst schütze, sondern auch die anderen. Nur so lässt sich die Pandemie beenden. Corona fragt nach einer Ethik des Zusammenlebens. Und genau hier kommt nicht nur die Pflicht ins Spiel, sondern auch unser Verhältnis zum Staat, zu der Gemeinschaft, in der wir leben.

 

In den Zeiten vor Corona haben wir Deutschland vor allen Dingen als eine Art Versorgungsstaat erlebt, demgegenüber wir zahlreiche Rechte haben. Der Staat sorgt für unsere Sicherheit, er stellt uns Schulen, Straßen und Schwimmbäder zur Verfügung und kümmert sich, wenn wir arbeitslos werden. Natürlich haben wir auch Pflichten, aber die scheinen sich fast nur noch auf das Zahlen von Steuern zu beschränken.

 

Precht rekapituliert kurz die Geschichte des modernen Wohlfahrtsstaates. Dabei stellt er den von Michel Foucault stammenden Begriff der „Biopolitik“ ins Zentrum. Biopolitik besagt im Kern, dass die Gesundheit der Bürger zu den Staatszielen eines modernen Staates gehören. Um dieses Ziel zu erreichen, hat der Staat seit Ende des 19. Jahrhunderts zahlreiche Anstrengungen unternommen. Sauberes Trinkwasser, Wohnraum und Energie für alle zählen ebenso dazu wie ein funktionierendes Gesundheitssystem.

 

Damit sind wir bei Corona. Denn wenn die Gesundheit der Bürger Staatsziel ist, dann muss der Staat in der Pandemie handeln. Und dabei muss er abwägen: Was ist wichtiger? Das Recht auf Gesundheit oder das Versammlungsrecht? Genau das ist in den letzten anderthalb Jahren geschehen. Und das ist nicht der größte Verfassungsbruch in der Geschichte der Bundesrepublik, sondern im Grund ein Normalfall. Für alle Grundrechte gibt es Einschränkungen, meist beginnen sie dort, wo Würde und Freiheit eines anderen verletzt werden. Man denke z. B. an die Notstandsgesetze von 1968, die zu den Notständen nicht nur Kriege und Terrorismus, sondern auch Seuchen zählte.

 

Unser Staat hat sich in der Corona-Pandemie dafür entschieden, die Schwachen zu schützen: Alte und Kranke vor allem. Sicher ist da vieles schief gelaufen, vieles hätte im Nachhinein besser gemacht werden können. Deshalb gab es im Frühjahr 2020 den ersten Lockdown. Man hätte damals biopolitisch allerdings statt auf Solidarität auch auf Auslese setzen und auf vorsorgende Maßnahmen verzichten können. Die USA unter Donald Trump haben das weitgehend gemacht. Aber das, so Precht, ist die Politik einer Herrenmoral. Sie schützt keine Freiheitsrechte, „sondern will eine andere Werteordnung und einen anderen Staat“ (S. 63). Man muss sich also nicht wundern, dass bei den Anti-Corona-Demos so viele Neonazis und Reichsbürger mitlaufen.

 

Wer dagegen nur auf seine Rechte pocht und sich an keine der auferlegten Regeln zur Eindämmung der Pandemie hält – und sei es nur das Maskentragen – der hat, so Precht, seine individuellen Rechte von seinen Pflichten völlig abgekoppelt.

 

Rechte und Pflichten, das ist Prechts zentraler Punkt, sind wie zwei Seiten einer Medaille. Man kann sie nur zusammen bekommen, nicht einzeln. Das Buch schließt deshalb auch mit dem Vorschlag, für alle Bürger zwei soziale Pflichtjahre einzuführen: eines für alle jungen Menschen nach dem Schulende, eines für alle Menschen im Renteneintrittsalter. Ich halte das für einen höchst sinnvollen Vorschlag, der nicht nur für jeden, der ein solche Jahr leistet, einen großen menschlichen Gewinn einbrächte. Auch das Gefühl, dem eigenen Gemeinwesen gegenüber auch Pflichten zu haben, bliebe so wach.

 

Fazit: Prechts „Von der Pflicht“ ist lesenswertes, kluges und wichtiges Buch in der aktuellen Lage. Es geht hart aber immer argumentierend mit den Querdenkern aller Couleur ins Gericht und zeigt: Wer querdenkt, der hegt und pflegt vielleicht seine Wut und seinen Frust, aber er schützt nichts und niemanden, sondern denkt einzig und allein an sich. 

 

Richard David Precht: Von der Pflicht. Eine Betrachtung, Goldmann Verlag, München 2021

 

 Udo

 

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