Silvia Ferrara: Der Sprung

Silvia Ferrara beginnt ihr großartiges Buch „Der Sprung. Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit“ mit der rhetorischen Figur der Litotes. Das ist so eine Art Disclaimer für alles, was ihr Buch nicht ist

 

„Dies ist weder ein Buch über Wissenschaft oder Kunst noch eines über Semiotik. Es handelt weder von den großen Entdeckungen der Archäologie noch von den kleinen, die Forschern in Nischengebieten gelangen, obwohl viele der hier erzählten Geschichten den meisten wohl neu sein werden. Es ist kein Geschichtsbuch, auch keines über Ästhetik, Anthropologie oder Philosophie, auch wenn es von der Vergangenheit und der Menschheit, von Schönheit, Glanz und Grenzen handelt.“ (S. 9)

 

Das stimmt alles. Und es stimmt auch wieder nicht. Silvia Ferrara nimmt uns mit auf eine Reise zu den Anfängen des Denkens. Und damit dann eben doch zu den Anfängen von Wissenschaft, Kunst, Philosophie. Der Autorin geht es um die Anfänge von Symbolen, Piktogrammen, Zeichen. Letztlich geht es ihr um die Anfänge der Schrift.

 

Das hat mit Silvia Ferraras Forschungsgebiet zu tun. Sie ist Professorin für „Ägäische Kulturen“ (was für ein herrliches Fachgebiet!) an der Universität Bologna. Und sie leitet das von der EU angestoßene und finanzierte Projekt INSCRIBE (Invention of Scripts and their Beginnings). Darin untersucht sie die Erfindung und die frühen Phasen der Schrift. Diesem Forschungsinteresse verdanken wir Silvia Ferraras Buch „Die große Erfindung. Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften“. Darin erfahren wir z. B. warum der berühmte „Diskos von Phaistos“ zwar mit Sicherheit ein Textdokument ist, aber eines, das nie entziffert werden kann.

 

Das neue Buch „Der Sprung“ geht jetzt noch einen Schritt zurück in die Zeit vor der Erfindung der Schrift. Die Menschheit nimmt gewissermaßen Anlauf, um den Sprung in die Schrift zu wagen. Silvia Ferrara hat ihr Buch entsprechend in die Phasen eines Sprunges eingeteilt: Anlauf, Absprung, Sprung nach oben, Sprung hinaus, Sprung nach vorn.

 

Fast atemlos verfolgt man Silvia Ferrara bei diesem Sprung von einem Ort zum anderen. Es geht in französische Höhlen, nach Südafrika, Algerien, Ägypten, die USA, Italien, die Türkei bis zuletzt nach Malta. Überall dort haben unsere Vorfahren graphische Darstellungen hinterlassen, um es einmal ganz neutral zu formulieren. Hände auf Höhlenwänden, Bilder von Tieren und Menschen, Einkerbungen, Muster. All das sind verschiedene Phasen auf dem Weg hin zur Schrift.

 

Das Erstaunliche dabei ist, dass diese Entwicklung dem entspricht, was neurophysiologisch in unseren Gehirnen passiert, wenn wir etwas wahrnehmen bzw. sehen. Wir beginnen dort mit der Wahrnehmung von Umrissen, die wir dann als Formen erkennen, die wir schließlich mit Details ausstatten. Wir zoomen die Objekte heran, rücken sie dann wieder etwas weiter in die Ferne, zoomen wieder heran. Aus diesem Hin und Her entsteht das Gesamtbild. Genau das geht „Hand in Hand mit dem, was uns die Archäologie erzählt: Schon für das Obere Paläolithikum sind Beispiele für die elementare Struktur des Prozesses der Formwahrnehmung belegt – in der Blombos-Höhle für die Zeit von vor sechzigtausend Jahren.“ (S. 77/78)

 

Silvia Ferrara präsentiert dabei teilweise sehr komplexe und abstrakte Einsichten und Überlegungen. Aber da sie schlicht und einfach schreiben kann, hat man keine Mühe ihr zu folgen. Sie erzählt bildreich und bunt, ist auf der Höhe der Zeit und zieht Filme und Popsongs heran, um anschaulich erklären zu können. Man hat ihr deshalb vorgeworfen, sie sei eine Art Instagram-Girl der Archäologie, aber das ist einfach Unfug.

 

Das letzte Kapitel schließlich behandelt den Sprung ins Dunkel der Zukunft. Wie werden die Zeichen, die wir heute hinterlassen, in einer fernen Zukunft einmal gelesen? Silvia Ferraras Buch macht ja eindrücklich klar, wie schwierig es ist, sich in die Köpfe von Menschen zu versetzen, die vor 10.000 Jahren gelebt habt. Sie nimmt uns deshalb mit nach Onkalo, in das unterirdische Endlager für hochradioaktive Abfälle in Finnland. Wie macht man Menschen, die in 60.000 oder 100.000 Jahren leben, klar, dass die Fässer in Onkala tödlich sind? Welche Zeichen gelten auch dann noch und sind verständlich? Sprache und Zeichen sind ein lebendiges System. Deshalb lohnt es, sie aufmerksam zu betrachten. So wie Silvia Ferrara in ihrem höchst lesenswerten Buch.

 

Silvia Ferrara: Der Sprung. Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit, C.H. Beck Verlag, München 2023.

 

Udo

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