Tomáš Halík: Der Nachmittag des Christentums

 

Bei theologischen Büchern passiert es mir nicht so oft, dass ich sie spannend finde und immer weiterlesen will. Mit Tomáš Halíks  „Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage“ ist es mir aber genauso gegangen. Warum? Das liegt zum einen daran, wie dieses Buch geschrieben ist, und zum anderen, dass es viele essenzielle und grundlegende religiöse Fragen behandelt, die einen angehen.

 

Beginnen wir mit dem Stil des Buches: Es ist ein theologisches Sachbuch, muss aber nicht am Schreitisch gelesen werden. Keine komplizierten Schachtelsätze, keine Überlastung mit Fachbegriffen beim Behandeln philosophischer und theologischer Themen.

 

Dafür dialogische Offenheit durch eine polywissenschaftliche Betrachtung in an sich komplexen Themenfeldern wie: Glaube, Religion, Christentum, Gottesnähe/Gottesferne, Tod und Auferstehung, Spiritualität, Atheismus, Hoffnung, Gemeinschaft. Tomáš Halík ist Philosoph/Religionsphilosoph, Theologe, Soziologe und Psychologe; er verfügt über die Bildung und Weisheit des Alters (geb. 1948). Darüber hinaus bringt er sehr persönliche Erfahrungen als Bürger, Konvertit, katholischer Priester und Wissenschaftler des kommunistischen, autoritären Systems der ehemaligen Tschechoslowakei und der heutigen demokratischen Republik Tschechien ein. Er schreibt begrifflich klar und literarisch-bildhaft, darin authentisch, einfühlsam, bekennend – durchgehend vom Buchtitel bis in die 16 essayistisch gehaltenen Kapitel. Bei der Lektüre zeigt sich auch immer wieder und auf sympathische Weise der Priester Tomáš Halík, der sein Buch Papst Franziskus widmet.

 

Halík benutzt die Metapher des Tages von C. G. Jung, der die Phasen des menschlichen Lebens mit den Einteilungen des Tages vom Morgen bis zum Abend vergleicht (53ff). Er überträgt das auf die Kirche. In diesem Moment der Kirchengeschichte ist die Kirche in der Mittagskrise. Die einen wollen die alten Strukturen der Kirche um jeden Preis erhalten, die anderen sehen die Rettung in deren Veränderung. Für Tomáš Halík geht es in dieser Krise nicht um Strukturen, sondern um den Inhalt des Glaubens. Er muss wieder entdeckt werden und zwar durch die Entwicklung einer neuen Sprache hin zu spiritueller Tiefe. Es braucht eine offene Kirche und einen offenen Glauben, der in ständigem Dialog ist mit den Fragen der Zeit.

 

Mich zieht es beim Lesen besonders hin zum „Nachmittag des Christentums“, der für Tomáš Halík voller Visionen ist. Er konnotiert den Begriff Nachmittag nicht negativ mit Abend, Untergang und Tod. Ihm erschließt sich die Nähe zum Abend vielmehr positiv im biblischen Zeitverständnis als Beginn des neuen Tages. Er mahnt uns zu Achtsamkeit: „Übersehen wir nicht den Augenblick, wenn am Abendhimmel der erste Stern erscheint.“ (291) Seinen Darlegungen zu Spiritualität gehe ich genauer nach; auch die zu Hoffnung, Weggemeinschaft und „Gemeinschaft des Zuhörens und des Verstehens“ schulen die Achtsamkeit.

 

Eine zentrale Aufgabe für das Christentum in der Nachmittagsepoche seiner Geschichte sieht Halík in der Entwicklung der Spiritualität. Warum? Weil das traditionell kirchliche Christentum gegenwärtig herausgefordert ist durch eine Wende von der Religion zur Spiritualität. Es ist weniger mit dem säkularen Humanismus und Atheismus konfrontiert, sondern mit einem enormen „Durst nach Spiritualität“. Darin sieht Tomáš Halík das „große Zeichen der Hoffnung auf eine positive Verwandlung unserer Welt“ (221). Eine seiner Hauptthesen lautet: „Die Zukunft der Kirchen hängt in hohem Maße davon ab, ob, wann und in welchem Ausmaß sie die Wichtigkeit dieser Wende begreifen und wie sie auf dieses Zeichen zu antworten vermögen“. (210)

 

Spiritualität versteht er als „eine dynamische innere Dimension und Form des Glaubens“ (214). Ihr „Lebensraum ist die Tiefendimension des menschlichen Lebens und der menschlichen Kultur“ und diesen Lebensraum muss die Evangelisierung durchdringen. „Es muss jener innerste Bereich sein, den Augustinus memoria nannte, Pascal Herz und Jung das Selbst; dort ist jener Mutterschoß, aus dem der Mensch - im Geiste der Worte Jesu zu Nikodemus - von neuem geboren werden muss.“

 

Tomáš Halíks Reflektionen zur „Spiritualität als Leidenschaft des Glaubens“ umkreisen schwierige Fragen. Er sucht Antworten durch die Auseinandersetzung mit Fachliteratur (212ff: hier der israelitische Forscher Boaz Huss: Spiritual, but not Religious, but not Secular. Spirituality and its New Cultural Formation, 2018) und den historischen Aufriss zu seinen Fragen, wie:  „Was ist die Ursache des gegenwärtigen Interesses an der Spiritualität? Welche Herausforderungen stellt dieses Phänomen für das Christentum und für die Kirche dar? Mit welchen Risiken und Gefahren ist dieser Trend verbunden? Ist das Interesse an der Spiritualität ein Beweis für die Revitalisierung der Religion, oder ist es vielmehr ein Ersatz für die im Rückzug befindliche Religion? Welches Verhältnis hat die Spiritualität zum Glauben und zur Religion?“ (211)

 

Halík zeigt, wie sich aus einer Spiritualität als lebendigem Glauben durch die Geschichte hindurch Zentren der Spiritualität gebildet haben. Durch sie wurde das theologische Denken angeregt, sie führten zu Kirchenreformen, aber auch zu tragischen Erschütterungen, wenn die kirchlichen Autoritäten nicht auf deren Impulse hörten. Er zieht eine Entwicklungslinie aus von den monastischen Bewegungen und Reformen in Mittelalter und früher Neuzeit über das Einsiedlertum im 20. Jahrhundert bis hin zu der Entstehung neuer religiöser oder charismatischer Bewegungen. Der Trappist Thomas Merton (1915-1968) sprach als erster ein breites Publikum an mit seinen Büchern über das kontemplative Leben in der Stille und mit Weltverantwortung. „Kloster auf Zeit“ ist insbesondere in den stark säkularisierten Ländern ein gesuchtes kirchliches Angebot.

 

Interessant ist, wie Halík die Entwicklungslinie weiter ausführt:  Die Globalisierung und die postmoderne Wende führten zur Begegnung mit dem Fernen Osten und ihrer Spiritualität. Schon in den 60-er Jahren des 20. Jahrhunderts nahmen die Psychotherapie und transpersonale Psychologie hieraus Impulse auf. Von Kalifornien ging die New-Age Bewegung aus, deren Synkretismus seitens kirchlicher Autoritäten kritisch gesehen wurde. Sie stellten sich allerdings „zu ihrem Schaden… nicht die Frage, auf welche Bedürfnisse und welche Zeichen der Zeit diese Bewegungen antworteten und ob die Kirche in der Lage sei, dafür eine kompetente Antwort anzubieten.“ In den christlichen Bereich schwappten die Wellen des „christlichen Zen“ und des „christlichen Yoga“. Es zeigt sich: Die Menschen sind spirituell auf der Suche, Christen und Nichtchristen. Das Studium der christlichen Mystik interessiert von neuem und es entstehen Zentren der christlichen Meditation, zum Teil ökumenisch, wie die Communauté von Taizé. Hier setzt Tomáš Halík an mit einer einer seiner Visionen: „Während in vielen Ländern die Kirchen leerer und die Priester weniger werden, das Netz der Pfarrgemeinden immer größere Risse bekommt und es wahrscheinlich keine Hinweise darauf gibt, dass dieser Trend sich nicht weiter fortsetzen würde, ist die geistliche Begleitung der Suchenden offenbar diejenige Form des Dienstes, welche die Kirche nicht nur den Gläubigen sondern auch jener wachsenden Welt der nones (Nichtgläubigen S.M.) bieten kann.“ In seinem – sehr persönlich gehaltenen - Abschlusskapitel „Eine Gemeinschaft des Zuhörens und des Verstehens“ schreibt Halík diese Vision weiter aus:

 

„Ich bin fest davon überzeugt, dass der Dienst der persönlichen geistlichen Begleitung die wichtigste und gefragteste pastorale Aufgabe der Kirche in der bevorstehenden Nachmittagsepoche der christlichen Geschichte sein wird. Es ist gleichzeitig ein Dienst, bei dem ich selbst am meisten gelernt habe, bei dem es zu gewissen Verschiebungen in meiner Theologie und Spiritualität sowie in meinem Verständnis des Glaubens und der Kirche gekommen ist. Als mein Bischof, Dominik Kardinal Duka, es entschieden ablehnte, die Opfer des sexuellen Missbrauchs durch Priester (einschließlich von Angehörigen des Klosters, dessen Vorsteher er seinerzeit war) zum Gespräch zu empfangen, und sie an die Polizei verwies, habe ich mit vielen von ihnen lange nächtliche Gespräche geführt, nach denen ich häufig bis zum Morgen nicht einschlafen konnte. Ich habe nicht viel mehr erfahren, als was bereits öffentlich bekannt gewesen ist, aber ich habe diesen Menschen in die Augen geschaut und ihnen die Hand gehalten, als sie geweint haben. Und es war etwas ganz anderes als die Protokolle mit den Aussagen bei der Polizei oder vor Gericht zu lesen. Jahrelang habe ich als Psychotherapeut gearbeitet und weiß darum, dass seelische und geistige Schmerzen nahe beieinanderliegen und einander durchdringen, aber das hier war etwas anderes als bloße Psychotherapie. Hier habe ich mit dem ganzen Herzen die Anwesenheit Christi gespürt und zwar auf beiden Seiten: In jenen  ´Kleinen, Kranken, Verhafteten und Verfolgten´und gleichzeitig auch im Dienst des Zuhörens des Trosts, der Versöhnung, den ich ihnen bieten sollte.“ (270f)

 

Ähnlich berührend sind seine Geschichten zum „psychologischen Lynchen“ von homosexuellen Christ*innen durch ihr frommes Umfeld oder zu Wiederverheirateten, denen die Kommunion verweigert wird. Halíks Frage ist nur folgerichtig: „Wann  tritt in unserer Kirche endlich die Wende von einem ´Katholizismus ohne Christentum´ und von der Gerechtigkeit ohne Barmherzigkeit zu jenem ´neuen Lesen des Evangeliums´, zu dem Papst Franziskus auffordert und das er lehrt?

 

Tomáš Halík: Der Nachmittag des Christentums. Eine Zeitansage. Freiburg-Basel-Wien: Herder 2022, 317 S.

 

Sabine

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