Nach Uwe Wittstocks Bestsellern „Februar 33. Der Winter der Literatur“ (2021) und „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ (2024) legt der Beck Verlag jetzt mit „Karl Marx in Algier. Leben und letzte Reise eines Revolutionärs“ einen Text von Wittstock auf, der unter dem Titel „Karl Marx beim Barbier“ bereits 2018 im Münchener Blessing Verlag erschienen ist.
Anders als in seinen beiden Bestsellern arbeitet Wittstock in seinem Marx-Buch noch nicht mit seiner erzählerischen Montage-Technik, die einzelne Ereignisse nebeneinanderstellt, um dadurch eine Zeit zu beleuchten, wie etwa den Februar 1933 nach der Machtergreifung der Nazis. Das liegt auch daran, dass Wittstock es in seinem Marx-Buch eben nur mit einem einzigen Protagonisten zu tun hat, während in den beiden späteren Büchern zahlreiche Schriftsteller, Maler und Intellektuelle auftreten.
Im Februar 1882 reist Karl Marx von London nach Algier. Er ist 64 Jahre alt und ein schwerkranker Mann. Sein Arzt spricht von einer Rippenfellentzündung und einer Bronchitis. Er rät ihm, zur Genesung in eine wärmere Gegend zu fahren. Aber wo ist es im Februar schon warm in Europa? Außerdem ist Marx ein Staatenloser, er hat seit Jahren keinen Pass mehr. Reisen in Europa sind damit fast unmöglich. So wird Algier schließlich das Ziel seiner Reise. Zu der hartnäckigen Krankheit kommt auch noch der Tod seiner Frau Jenny am 2. Dezember 1881. Marx ist ein körperlich und seelisch gebrochener Mann, als er in Algier von Bord seines Schiffes geht. Bis Anfang Mai wird er in der Stadt bleiben.
Kurz vor seiner Abreise aus Algier lässt er sich seinen mächtigen Bart abschneiden. So ein Bart galt damals als revolutionäres Statussymbol. Ein Bart machte zwar keinen Philosophen, aber ein Revolutionär ohne Bart ging gar nicht. War die Rasur also ein politisches Statement? Eine Absage an Revolution, Diktatur des Proletariats und klassenlose Gesellschaft? Hat der wahrscheinlich wirkmächtigste Denker der Welt damit in Algier ein Jahr vor seinem Tod am 14. März 1883 alles zurückgenommen?
Solche Fragen machen die Reise hochinteressant und es ist viel um sie spekuliert worden. Dabei sind die Wochen in Algier tatsächlich eher ereignislos. Das Wetter ist lange Zeit schlecht. Marx ist krank, er hat schmerzende Hustenanfälle und deren Behandlung ist fast noch schmerzhafter. Meist liegt er im Bett. Was soll Marx also tun? Wittstocks Buch geht davon aus, dass er in Algier seine Lebensbilanz zieht.
Und so wird die Beschreibung der Reise immer wieder unterbrochen von Marxens Biografie. Wittstock erzählt von den wilden Studienjahren in Bonn und Berlin, der Zeit als Redakteur, Marx seltsame Rolle bei der Revolution von 1848 und dann das ewige Exil mit seiner Armut, den Krankheiten, dem Tod vieler Kinder. Marx schreibt fast ununterbrochen, aber nichts wird fertig. Sein Hauptwerk „Das Kapital“ bleibt unvollendet, erschienen zu Marx´ Lebzeiten ist nur der erste Band. Marx überlebt nur, weil sein Freund Friedrich Engels (1820 – 1895) ihn ein Leben lang unterstützt. Auch wenn „Das Kapital“ gewissermaßen das Grundbuch der politischen Ökonomie ist, kann Marx überhaupt nicht mit Geld umgehen, er wirft es mit vollen Händen zum Fenster raus. Ständig ist er pleite und weiß kaum, wie er seine Familie ernähren soll. Marx Leben steht in einem erstaunlichen Kontrast zu seiner historischen Bedeutung. Vielleicht hat er sich deshalb in Algier schließlich den Bart rasiert.
Wittstock erzählt das alles mit leichter Hand, klug und unterhaltsam, auch wenn sein Marx dabei etwas blass wirkt. Man liest das Buch, das zum 200. Geburtstag am 5. Mai 2018 erschienen ist, gern. Die Neuauflage jetzt, nach zwei Bestsellern, bestätigt die Bilanz am Ende des Buches. Was bleibt von Marx´ Ideen und Gedanken? Wittstock schreibt: „Seine präzise Darstellung des Kapitalismus als eines tendenziell ebenso grenzen- wie gnadenlosen Verwertungssystems ist noch heute überzeugend.“ (S. 232)
Udo