Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit

 Mit „Feuer der Freiheit“ legt Wolfram Eilenberger den Nachfolgeband seines Bestsellers „Zeit der Zauberer“ aus dem Jahr 2018 vor. Bei den Zauberern ging es um die vier Philosophen Walter Benjamin, Ernst Cassirer, Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein und den Zeitraum 1919 bis 1929. „Feuer der Freiheit“ ist ganz ähnlich aufgebaut. Das beginnt mit der Alliteration im Titel. Diesmal geht es um vier Denkerinnen und die Jahre 1933 bis 1943. Von der Weimarer Republik also zum Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg.

 

Eilenberger hat sein neues Buch ganz klar als Nachfolgeband seines ersten Bestsellers angelegt. Doch das funktioniert nur bedingt. Die Zauberer standen alle miteinander mehr oder minder direkt miteinander im Gespräch. Heidegger und Cassirer haben 1929 miteinander in Davos diskutiert. Wittgenstein las Heidegger sehr genau, Heidegger umgekehrt Wittgenstein. Benjamin ist der Außenseiter. Aber als hellwacher Zeitgenosse kannte er natürlich diee großen Denker seiner Zeit. Und über Benjamins Beziehung zu Hannah Arendt führt noch ein Weg nach Todtnauberg. Ein solches enges Beziehungsgeflecht gibt es in „Feuer der Freiheit“ nicht. Die vier Denkerinnen, die Eilenberger über zehn Jahre philosophisch und biographisch begleitet sind:

 

Gekannt haben sich nur die beiden Simones, es gab eine flüchtige Begegnung in der gemeinsamen Studienzeit, an die de Beauvoir sich in ihren „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ erinnert: „Eine große Hungersnot hatte China heimgesucht, und man hatte mir erzählt, dass sie bei Bekanntgabe dieser Nachricht in Schluchzen ausgebrochen sei: Diese Tränen zwangen mir noch mehr Achtung für sie ab als ihre Begabung in Philosophie. Ich beneidete sie um ein Herz, das imstande war, für den ganzen Erdkreis zu schlagen. Eines Tages gelang es mir, ihre Bekanntschaft zu machen. Ich weiß nicht, wie wir damals ins Gespräch gekommen sind; sie erklärte in schneidendem Tone, dass eine einzige Sache heute auf Erden zähle: eine Revolution, die allen Menschen zu essen geben würde. In nicht weniger peremptorischer Weise wendete ich dagegen ein, das Problem bestehe nicht darin, Menschen glücklich zu machen, sondern für ihre Existenz einen Sinn zu finden. Sie blickte mich fest an: ‚Man sieht, dass Sie noch niemals Hunger gelitten haben‘, sagte sie. Damit war unsere Beziehung auch schon wieder zu Ende. Ich begriff, dass sie mich unter die Rubrik ‚geistig ehrgeizige kleine Bourgeoise‘ eingereiht hatte.“

 

Hannah Arendt war 1933 auf der Flucht vor den Nazis nach Paris emigriert, von wo sie 1941 in die USA fliehen konnte. Dort lebte Ayn Rand, die 1926 Russland verlassen hatte, um in die USA zu gehen.

 

Diese Beziehungslosigkeit der vier Frauen untereinander ist das Problem des Buches. Man kann Arendt, de Beauvoir und Weil noch in Beziehung zueinander setzen. Sie alle haben in den 1930er Jahren in Paris gelebt und sich intensiv mit dem Nationalsozialismus auseinandergesetzt. Ayn Rand als Drehbuch- und Romanautorin in den USA wirkt im Buch wie ein Fremdkörper. Aber, und das ist eine Krux in der bis heute männerdominierten Philosophie: Wen hätte Eilenberger sonst nehmen sollen? Es gab praktisch keine Denkerinnen von Rang. Die einzige Alternative wäre gewesen, aus dem Quartett ein Trio zu machen.

 

Da die vier Frauen kaum biographische Schnittstellen haben, sucht Eilenberger nach denkerischen, philosophischen Gemeinsamkeiten. Sein Leitbegriff ist dabei die Freiheit, denn genau die ist mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus in Deutschland und dann in Europa zunehmend bedroht. Aber auch das ist etwas problematisch. Das liegt daran, dass die Frauen eigentlich erst dabei sind, sich zu den Großdenkerinnen zu entwickeln, als die wir sie heute wahrnehmen.

 

Einzig Ayn Rand hat ihre Grundgedanken bereits einigermaßen ausformuliert. Sie ist überzeugt davon, dass kein Staat dem Individuum überlegen ist. Denn Kollektive können nicht denken. Das macht Rand zu einer scharfen Gegnerin von Kommunismus und Nationalsozialismus, die das Individuum über die Zugehörigkeit zum Kollektiv definieren und entsprechend geringschätzen. Die USA sind für Rand die ideale Gesellschaft, Kapitalismus die perfekte Gesellschaftsform, wie eine Ein-Frau-FDP formuliert sie eine neoliberale Theorie, die angesichts von globalen Bedrohungen völlig antiquiert erscheint.

 

Simone de Beauvoir, deren Rolle für den Sartreschen Existenzialismus wahrscheinlich immer noch unterschätzt wird, entwickelt zu Beginn der 1940er Jahre im Entstehungsprozess ihres Romans „Sie kam und blieb“ (1943) ihren Begriff von der Freiheit des Individuums als die Freiheit, sich selbst zu entwerfen, zu ergreifen und in immer neuen Entwürfen zu transzendieren. Wir alle kommen nicht fertig zur Welt, nicht als Deutscher, Französin, Philosoph oder Malerin. Wir machen uns dazu oder werden dazu gemacht. Ja, und das ist die spätere große Erkenntnis der Feministin de Beauvoir: Wir werden nicht einmal als Mann oder Frau geboren, sondern dazu gemacht.

 

Unter den vier Frauen ist Simone Weil sicher die sperrigste Denkerin. Sie kämpft 1936 für einige Wochen im Spanischen Bürgerkrieg, ist dazu aber völlig ungeeignet. Sie ist magersüchtig und hochgradig empfindsam, so dass sie tatsächlich wegen einer Hungersnot in China in Tränen ausbrechen kann, wie de Beauvoir das berichtete. Sie hat mystische Erfahrungen, die aus der Agnostikerin eine Christin machen. Und sie will sich aktiv gegen den Nationalsozialismus einsetzen. Auf der Suche nach einem geeigneten Einsatzort für sich stirbt sie in England an Hunger und Tuberkulose. Sie fragt sich: Warum unterdrückt die Gesellschaft den Einzelnen? Warum nimmt sie ihm die Freiheit? Ihre Antwort darauf ist erstaunlich modern: Weil unsere Gesellschaft auf ein permanentes Wachstum und steigende Produktivität setzt. Ich bin mir sicher, Simone Weil und Greta Thunberg würden sich bestens verstehen.

 

Bleibt Hannah Arendt. Ihr Problem in diesen Jahren ist das schlichte Überleben. Sie ist Jüdin und wird als solche verfolgt. Ihre Erkenntnis daraus: Wenn ich als Jüdin angegriffen werde, muss ich mich als Jüdin wehren. Freiheit, das zunächst einmal die Befreiung von jeder Unterdrückung. Erst wenn das verwirklicht ist, ist Freiheit möglich: Leben und Handeln im öffentlichen Raum als Gleiche/r unter Gleichen. Später wird sie diesen öffentlichen Raum in ihrem Buch „Vita Activa“ beschreiben. Zunächst aber beschäftigt sie die Frage, woher Unfreiheit und Unterdrückung kommen. Sie führt sie zurück auf das Konzept des Nationalstaates, der eine Einheit von Volk, Territorium und Staat vorsieht. Indem Fremde oder Fremdes in diese Einheit eindringt, kommt es zum Konflikt. Um solche Konflikte zu vermeiden, lehnt Arendt auch die zionistische Idee eines jüdischen Nationalstaates ab. Da er auf arabischem Territorium errichtet werden soll, sind Konflikte vorprogrammiert. Auch wenn Hannah Arendt sich mit ihrer Ablehnung des Zionismus keine Freunde gemacht hat und langjährige persönliche Freundschaften schwer belastet wurde: Sie hat schlicht und einfach Recht behalten. Und mit ihrer Vision eines öffentlichen Raumes, in dem wir als Gleiche unter Gleichen miteinander arbeiten, reden und streiten, hat sie die Grundlage dafür geschaffen, wie eine offene, multikulturelle, globale Gesellschaft aussehen könnte. Das macht Hannah Arendt zu einer hochaktuellen Denkerin. Auch wenn Arendts Werke alle erst nach der Zeit entstanden sind, von der Eilenberger schreibt.

 

Trotzdem: Sein Buch macht Lust, die vier Denkerinnen zu lesen, ihre Bücher neu zu kaufen oder sie wieder aus dem Regal zu holen – und vielleicht lassen wir uns von ihren Feuern ja anstecken.

 

Wolfram Eilenberger: Feuer der Freiheit. Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten 1933 – 1944. Klett-Cotta, Stuttgart 2020

 

Udo

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