Bundeskunsthalle Bonn: Simone de Beauvoir und »Das andere Geschlecht«

Der Existenzialismus ist in den letzten Jahren wieder ziemlich in Mode gekommen. Bücher wie Sarah Bakewells „Das Café der Existenzialisten“ sind Bestseller, Sartre und Camus werden in immer neuen Ausgaben gedruckt. Vielleicht liegt es daran, dass der Grundgedanke des Existenzialismus, dass unsere Existenz der Essenz vorausgeht, wir also nicht mit einem fertigen Wesenskern auf die Welt kommen, sondern unser Wesen selbst bestimmen und ergreifen, eine erstaunliche Modernität bekommen hat. In den Sozialen Medien können wir alle mit geringen Fotoshop-Kentnissen ein Bild von uns entwerfen, dem wir dann nur noch entsprechen müssen.

 

Insofern passt es durchaus in die Zeit, dass sich die Bonner Bundeskunsthalle jetzt Simone de Beauvoir und ihrem Opus Magnum „Das andere Geschlecht“ von 1949 widmet. Höchste Zeit! Denn „Das andere Geschlecht“ ist das eigentliche Hauptwerk des Existenzialismus. Es hat mehr verkauft als die theoretischen Werke von Satrte und Camus, vor allem aber war es weitaus einflussreicher. Für diesen Einfluss stehen Übersetzungen in mehr als 40 Sprachen. Einige Ausgaben davon sind in der Bundeskunsthalle zu sehen.

 

Die Ausstellung setzt sich chronologisch mit de Beauvoirs Werk auseinander. Es beginnt mit einer Biographie der Autorin und ordnet sie dann in ihre Zeit ein. „In den besten Jahren“, wie sie den zweiten Band ihrer Autobiographie genannt hat, sind die 1930er bis 1950er Jahre. In dieser Zeit entsteht der Existenzialismus und feiert seinen Siegeszug. Es ist die Zeit der Pariser Cafés, der filterlosen Zigaretten und schwarzen Rollkragenpullover. Der Soundtrack dazu stammt von Jazzmusikern wie Miles Davis und Boris Vian. Die Muse heißt Juliette Greco. Der Zweite Weltkrieg verstärkt den philosophischen Ansatz des Existenzialismus noch: Jede Entscheidung in dieser Zeit ist eine klare Standortbestimmung, macht eine Aussage darüber, wer ich bin.

 

Die Ausstellung in der Bundeskunsthalle versucht, diese Atmosphäre einzufangen. Gedämpftes Licht, leise Jazzmusik, Caféhausstühle und –tische auf denen Bücher und Ausgaben von Les Tempes Modernes liegen.

 

Die Mitte der Ausstellung ist eine Art Caféraum, in dem man sich setzen kann und Auszüge aus „Das andere Geschlecht“ lesen kann, die auf eine Leinwand projiziert werden.

 

Die sich anschließenden Räume befassen sich dann mit der weltweiten Rezeption des Werkes. Das ist auch ein Stück Feminismusgeschichte. Es geht um Themen wie Gleichberechtigung, Chancengleichheit, das Recht auf Abtreibung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Die Ausstellung dokumentiert, dass wir mit all dem zwar ein Stück weitergekommen sind, aber von Gleichberechtigung kann noch lange keine Rede sein. Immer noch gilt der zentrale Satz aus „Das andere Geschlecht“: Man kommt nicht als Frau zur Welt. Man wird es. Frau wählt die Frauenrolle nicht, sie wird ihr aufgezwungen.

 

Simone de Beauvoir war und ist ein Role Model für zahlreiche Frauen. Eine von ihnen ist die Emma-Gründerin und Herausgeberin Alice Schwarzer. Sie hat zahlreiche große Interviews mit Simone de Beauvoir geführt. 1973 hat Schwarzer einen Film über sie gedreht: Simone de Beauvoir live. Dieses sehr persönliche Porträt bildet den Schlusspunkt der sehenswerten Ausstellung in der Bundeskunsthalle.

 

Udo

 

Wer mit der Erwartung, intellektuelle Anregungen in der Beauvoir-Ausstellung zu finden, durch die Säle geht, ist überrascht. Die Räume entpuppen sich als Erfahrungsräume, in denen man im eigenen Leben andocken kann. Zum Beispiel für die Generation der frühen Babyboomer, der ich angehöre: Während unserer Mütter noch häufig die Berufspläne auf dem Altar der Mutterschaft opferten, hatte „Le deuxième sexe“ der Beauvoir nach ersten leidenschaftlichen Debatten und Übersetzungen bereits viele Anhängerinnen gewonnen und zu wirken begonnen. Der schöne Mythos von der Mutterschaft schien zerschlagen. Jedenfalls war es für meine Generation keine Frage, dass wir einen Schulabschluss, gerne Abitur, machten und dann einen Beruf ansteuerten. Egal ob mit Studium oder Ausbildung, Hauptsache mit dem Ziel, das eigene Leben unabhängig von Männern selbstständig und frei gestalten und finanzieren zu können. Unsere Herausforderung war das Zusammen von anspruchsvoller beruflicher Tätigkeit und Familienleben und politischem Engagement.  Simone de Beauvoir war unsere Vordenkerin, eine Riesin, auf deren Schultern wir zu klettern versuchten. Um weiter zu schauen.

 

Von Simone de Beauvoirs tabellarischen Lebenslauf an den Wänden des ersten bis zum Abspann des Filmes im letzten Raum wird man hineingezogen in die eigene Geschichte und in unsere Geschichte als Frauen in einer männerdominierten Gesellschaft und Wissenschaft. Psychologisch gesprochen: Die Ausstellung ist voller „Trigger“.  Sie weckt Erinnerungen an Emanzipationserlebnisse, die mehr oder weniger weit zurückliegen. Zum Beispiel an Fragen in der Frauenforschung, mit denen ich in den 1980er Jahren in Studium und Forschung befasst war.  Mit Simone de Beauvoir war es das erste Mal, dass eine Frau systematisch eine soziologische  Untersuchung des Frauseins gemacht hat. Ihr „Le deuxième sexe“ ist wesentlicher Impuls für die Frauenbewegung in den 1970er Jahren. Sie hat Patin gestanden für die  Frauenzeitschrift „Emma“ und für die feministische Literaturbetrachtung, auch für die feministische Theologie. Welche maßgeblichen Impulse kamen nicht aus ihrer Einsicht, dass wir Frauen Literatur und Wissenschaft anders als Männer betrachten! Dass unser Frausein unsere Sicht auf Welt beeinflusst! "Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ – in der Ausstellung steht man seinem eigenen Leben gegenüber, egal ob jung oder alt, egal welches Geschlecht. Ist doch die halbe Menschheit  „Le deuxième sexe“. 

 

Sabine

 

Die Ausstellung ist bis zum 16. Oktober 2022 zu sehen. Eintrittspreis 5,00 Euro.

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