Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat

Der erste Hinweis auf sein neues Buch „Wer noch kein Grau gedacht. Eine Farbenlehre“ findet sich vielleicht am 26. November 2009 in Peter Sloterdijks Notizen „Zeilen und Tage“: „Von Eckhard Nordhofen ein Schlüsselsatz zur Farbenlehre der Postmoderne: „Zuviel Buntes macht grau.“ Gefunden in einer Kritik zu dem Buch von Linus Hauser, Kritik der neomythischen Vernunft. Band I: Menschen als Götter der Erde, 1800 – 1945.“ (Zeilen und Tage, 2012, S. 325

 

Mehr als ein Jahrzehnt später legt Sloterdijk jetzt seine postmoderne Farbenlehre vor. Er überträgt dabei Paul Cézannes Satz „Solange man nicht ein Grau gemalt hat, ist man kein Maler“ auf die Philosophie. Welche Philosophen denken das Graue? Mit dieser Frage im Gepäck unternimmt Sloterdijk seine neue Reise durch die Philosophie- und Geistesgeschichte. Das ist, nebenbei bemerkt, Sloterdijks typische Herangehensweise an seine Bücher. Er stellt sich eine Frage und durchforstet dann die Philosophiegeschichte, nach Antworten. In „Zorn und Zeit“ (2006) etwa geht er auf Spurensuche nach dem Thema Zorn. „Du musst dein Leben ändern“ (2009) geht Rilkes Imperativ nach. Zuletzt „Den Himmel zum Sprechen bringen“ (2020) untersucht, wann es in der Geistesgeschichte Textzeugnisse davon gibt, dass die Himmlischen das Wort an die Irdischen richten.

 

Jetzt also Grau. Man befürchtet ein Buch, das der Farbe entspricht: zutiefst langweilig und öde. Aber man kann in Umkehrung von Nordhofens Schlüsselsatz zur postmodernen Farbenlehre sagen: Wenn man sich das Graue genau anschaut, ist es ziemlich bunt.

 

Sloterdijk mischt seine Grau-Palette gewissermaßen fünfmal neu, um sich der Unfarbe zu nähern. In fünf Kapiteln untersucht er die Farbe in der Philosophie, in der Politik, im Umfeld der Frage nach dem Ursprung des Bösen, in der Literatur und schließlich als Synonym für Gleichgültigkeit. Zwischen den einzelnen Kapiteln stehen vier Digressionen, also Abschweifungen. Zugegeben ein Fremdwort, das man – ich jedenfalls – nachschlagen muss. Aber dann bewundert man Sloterdijks sprachliche Feinheit, klingt in der Digression doch das „gris“ an.

 

Das erste Kapitel widmet sich dem Grau bei Platon, Hegel und Heidegger. Welche Farben haben die Schatten in der Höhle bei Platons Höhlengleichnis aus der Politeia? Wir befinden uns unter der Erde, nur ein Feuer funzelt und wirft die Abschattungen der Dinge auf die Höhlenwand. Die Schatten sind, so Sloterdijk, dunkelgrau. Menschen bewegen sich in einer Dunkelgrauzone, in die nur Erkenntnis Licht bringen kann und aus dem Grau Farbe macht. Es geht weiter mit Hegel, der explizit schreibt, die Philosophie male „Grau in Grau“. Dieses Grau lasse sich auch nicht aufhellen, da die Eule der Minerva nur nachts fliegt.

 

Next step: Heidegger und seine berühmte Meditation über die Langeweile in der Freiburger Vorlesung „Die Grundbegriffe der Metaphysik“ aus dem Wintersemester 1929/30. Heidegger ist für Sloterdijk der „maßgebliche philosophische Interpret der Grautöne, (…) einem Cézanne der gedanklichen Welt vergleichbar“ (S. 55,56), weil er sich mit Themen auseinandersetzt, die nur schwer in den Begriff zu bringen sind: Gerede, Langeweile, das Man, Uneigentlichkeit, Verborgenheit. In-der-Welt-sein für Heidegger: im grauen Frühnebel eines Todtnauberger Herbsttags stehen, statt in der Sonne Griechenlands.

 

Genau darum geht es Sloterdijk in seiner grauen Farbenlehre: um das Diffuse, das Zweideutige, das Unklare. Dabei werden in dieser Grauzone einige Dinge erstaunlich klar. Das Kapitel über die politische Farbenlehre, also über die Roten, die Grünen, die Schwarzen etc., und über das Grau der Diktatur gehört zu den besten Seiten, die Sloterdijk geschrieben hat. Man staunt, wieviel man über die Welt erfährt, wenn man gewissermaßen das Objektiv wechselt und die Welt betrachtet. Ausgehend von einer grauen Farbenlehre z. B. macht Putins Ukrainekrieg Schluss mit einer Welt in Regenbogenfarben. Die Aggression Russlands richtet sich ja explizit auch gegen eine Welt, in der LGBTQ-Menschen anerkannt und als gleichberechtigt akzeptiert werden. Der Ukrainekrieg ist vielmehr die Rückkehr einer Welt in schwarz-weiß, eine Mischung, von der am Ende nur das Grau der Diktatur bleibt. Man muss nur Swetlana Alexijewitschs Buch „Secondhand-Zeit“ lesen, um zu wissen, was dieses Grau mit Menschen macht.

 

Das ist dann auch die Frage, auf die Sloterdijks Farbenlehre hinausläuft. Unde bonum? Woher kommt in all diesem Grau, in diesem diffusen Zwielicht, das Gute? Vielleicht, so legt er nahe, brauchen wir das Zwielicht, gerade damit das Gute entsteht. Denn weder in der völligen Schwärze der Nacht noch im grellen Licht kann etwas wachsen. Wir müssen, so Sloterdijk, das Graue denken, um uns dem „Herz der Seinsfrage“ (S. 286) zu nähern.

 

Peter Sloterdijk: Wer noch kein Grau gedacht hat. Eine Farbenlehre, Suhrkamp, Berlin 2022

 

Udo

 

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